"Sex mit Paps ist schön!" - Die Nürnberger Stadtindianer

21.9.2013, 11:00 Uhr

© Repro: NZ

30 Jahre später ist daraus parteipolitischer Streit entstanden, der hier gar nicht kommentiert werden soll. Es soll vielmehr an die Rolle eines Nürnberger Phänomens erinnert werden. Das hat sich in die einstigen Diskussionen lauthals eingemischt, und es war in der Stadt sehr präsent und wurde mal mit Wohlwollen, mal mit Stirnrunzeln, meist aber mit Schulterzucken beobachtet. Die Rede ist von den sogenannten Stadtindianern. Ende der 70er Jahre etablierte sich die Indianer-Kommune in Gostenhof, einem damals noch nicht sanierten und angesagten Stadtteil. Bis vor sechs oder sieben Jahren existierte sie in der Stadt. Sie betrieb einen Fahrradladen in der Mittleren Kanalstraße und erschien auf den Trempelmärkten mit einem riesigen Bücherstand.

Im Internet findet sich immer noch eine Homepage der Gruppe, wohl aus dem Jahr 2006. Da tritt sie auf als „Jugendselbsthilfe Nürnberg für echte Kinderrechte“. Neben einer naiven Zeichnung von fröhlichen abenteuernden Kindern im Tarzan-Gewand werden utopische Forderungen erhoben: „Lieber unter Brücken schlafen – Reise- und nächtliche Ausgangsfreiheit ab 12! Schulpflicht abschaffen ab 12!“ Und dann kommt die damals umstrittene, heute so strittige Passage: „Sexualität nix pfui! Selbstbestimmung über den eigenen Körper ab 12!“ Übrigens firmierte die „Jugendselbsthilfe“ als eingetragener Verein.

An dieser Passage zeigt sich, aus welcher Perspektive damals diskutiert wurde. In erster Linie wurde das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung für Kinder verlangt. Und das versuchten die Nürnberger Stadtindianer auch auf Parteitagen der ganz neuen und für unkonventionelle Programmatik offenen Partei „Die Grünen“ durchzusetzen. In den Archiven finden sich Medienberichte von ihren vehementen Auftritten etwa in Bad Godesberg. Dort okkupierten sie die Mikrofone und skandierten Floskeln wie „Sex mit Paps ist schön!“. Die meisten Delegierten reagierten nach denselben Medienberichten allerdings mit Ablehnung: „Wir wollen euch nicht hören!“

In Nürnberg empfand man bei den Auftritten der Stadtindianer (das Wort ist in der linksradikalen italienischen Sponti-Bewegung der 70er Jahre entstanden) eher ästhetisches Unbehagen als moralische Empörung. Der Kinderhaufen um den Oberindianer Uli Reschke mit seinem ewigen Halstuch als Markenzeichen machte einen verschmuddelten Eindruck. Die Umgangsformen zwischen Reschke und den Kindern (meist Jungs) schienen erstaunlich autoritär angelegt zu sein. Der Fahrradladen der Kommune wurde den Verdacht nie los, dass dort geklaute Vehikel verscherbelt würden.

Die sexuellen Verhältnisse in dieser Gruppe malte sich der Normalbürger lieber nicht aus. Aber Pädophilie war damals noch nicht so geächtet wie heute, sondern wurde auch in vielen wissenschaftlichen Publikationen als Erscheinungsform menschlicher Sexualität erörtert.

Was hat sich geändert? Der Stimmungsumschwung dürfte vor allem dem Internet als Medium brutaler Selbstdarstellung zuzuschreiben sein. Es ist zu einem Massenmarkt von Kinderpornografie geworden. Nahezu jeder kann im Netz auf Filme stoßen, die zeigen, wie Babys vergewaltigt werden. Das hat die Empörungsschwelle gesenkt. Deswegen muss sich auch Uli Reschke wieder vor Gericht verantworten, dem bisher nie der Missbrauch Minderjähriger nachgewiesen wurde. Es geht um ein Video, das eine Comicfigur beim Sex mit einer Maus zeigt, unterlegt mit einem Song von Helge Schneider (und selbstverständlich im Internet aufgetaucht). Das Magazin „Focus“ berichtet, dass Reschke inzwischen 61 Jahre alt ist und in einem Dorf weit weg von Nürnberg wohnt. Die Indianer-Kommune ist aus dieser Stadt verschwunden. Sie war eine Zeitgeist-Erscheinung, mit der man hier recht unaufgeregt leben konnte. Ob Erregung im Nachhinein sinnvoll ist, muss jeder selbst beantworten.
 

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