Weniger Corona-Beschränkungen

Sind wir nach Corona alle getrieben? Warum jetzt Freizeitstress droht

11.7.2021, 06:00 Uhr
Die Zeit der harten Einschränkungen ist vorbei - zumindest vorerst. Viele Menschen haben das Bedürfnis, jetzt ganz viel nachzuholen. Doch es kann auch zu viel werden.

© imago images/blickwinkel, NNZ Die Zeit der harten Einschränkungen ist vorbei - zumindest vorerst. Viele Menschen haben das Bedürfnis, jetzt ganz viel nachzuholen. Doch es kann auch zu viel werden.

Herr Professor Pscherer, die Corona-Pandemie hat viele Begegnungen und Aktivitäten unmöglich gemacht. Jetzt ist einiges wieder erlaubt. Das ist schön, erzeugt aber auch Druck. Wie schaffe ich es, mich wieder in den Alltag einzufinden?

Professor Jörg Pscherer mahnt zur Gelassenheit und wirbt dafür, seinen Mitmenschen auch mal ein Lächeln zu schenken - selbst mit Maske, schließlich lächeln die Augen mit.

Professor Jörg Pscherer mahnt zur Gelassenheit und wirbt dafür, seinen Mitmenschen auch mal ein Lächeln zu schenken - selbst mit Maske, schließlich lächeln die Augen mit. © privat

Jörg Pscherer: Aus sozialpsychologischer Sicht ist es verständlich, wenn Menschen nach den pandemischen Entbehrungen verstärkt persönlichen Kontakt suchen. Der Mangel, den man während der Pandemie erlebt hat, erzeugt jetzt nicht nur bei extrovertierten Menschen einen Kontrasteffekt. Man muss immer noch Vorsichtsregeln einhalten, aber viele leben jetzt ihre Bedürfnisse nach sozialen Kontakten besonders intensiv aus. Das ist etwas ganz Normales und gesund. Ich beobachte, dass sogar das Passantenlächeln - auch mit Maske können Augen lächeln - und der Small-Talk eine wohltuende mitmenschliche Renaissance erleben.

Aber es gibt Menschen, denen alles schon wieder zu viel wird. Gerade nach der langen Kontaktpause.

Pscherer: Sicherlich mag da bisweilen ein gereizter Druck des Aufholen-Müssens entstehen, aber den halte ich für temporär oder er trifft Personen, die auch in Vorpandemie-Zeiten Dosierungsprobleme hatten. Arbeits-, Konsum- oder Freizeitstress ist eine grundsätzliche Balancefrage, virusbedingte Einschränkungen hin oder her. Meine Empfehlung: Etwas Zeit lassen, die wiedergewonnenen oder neu entdeckten Optionen wertschätzen, dann konzentriert man sich achtsamer darauf.

Das Pensum an Aktivität, das man verträgt, ist sicher bei jedem Menschen anders. Wie kann ich herausfinden, wo meine Grenze liegt? Welche Warnsignale muss ich beachten?

Pscherer: Warnsignale sind immer individuelle Stresssignale, ob bei drohender beruflicher Überlastung oder Hyperaktivität in der Freizeit. Letztere sollte ja ausgleichend, entspannend und energiespendend sein. Werden hingegen Nervosität, Anspannung oder gar Erschöpfungszeichen wahrgenommen – körperlich wie mental – dann rechtzeitig einen Gang zurückschalten oder immer wieder mal innehalten.

Man muss also rechtzeitig auf die Bremse treten. Und dann?

Pscherer: Hier bieten Antistress- und Achtsamkeitsübungen eine gute Hilfestellung, verbunden mit der Fokussierung auf das gegenwärtige Verhalten: Alles zu seiner Zeit. Bin ich in diesem Moment schon woanders, dann zum Augenblick zurückehren. Tue, was du tust und nicht, was du tun könntest oder müsstest. Das gilt vor allem für den sogenannten Freizeitstress. Und gerade beim virtuellen Socializing, das durch die Pandemie beschleunigt wurde, sollte die Qualität zählen, nicht die Quantität. Sonst verliere ich den Überblick. Die Grenze ist vermutlich eine fließende, das ist wie gesagt eine persönliche und auch eine Frage der eigenen Ressourcen.

Viele Menschen sind erschöpft, ausgebrannt, suchen Entspannung beim Yoga oder in Achtsamkeitskursen. Warum fällt es uns so schwer, uns im Alltag Pausen zu verschaffen? Was treibt uns ununterbrochen an?

Pscherer: Die ständige Suche und mangelnde Abgrenzung treiben an. Aber auch die externen Anforderungen mit ihrem Mengen-, Zeit- und Komplexitätsdruck. Das kann zum bekannten, aber leider auch inflationär genannten Burnoutphänom führen. Leistung darf wohl sein, Erfolge dürfen erstrebt werden, denn sie ermöglichen Verbesserungen. Nicht jeder vorübergehende Stressor sollte verteufelt werden. Aber es sollte gesundheitsschädlichen, längerfristigen Mustern entgegengesteuert werden.

Welche sind das?

Pscherer: Da sind die inneren Antreiber wie perfektionistische Leistungsmuster etwa. Auf der äußeren Seite sind es die offenen und verdeckten Optimierungserwartungen, nicht zuletzt seitens Unternehmensführung, Marktstrategien und Gesellschaftskonsumdruck. Dann haben wir den Teufelskreis des permanenten Antreibens, der die Luft nimmt.

Die vergangenen Monate haben uns dazu gezwungen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wie kann ich es vermeiden, dass jetzt in meiner Freizeit wieder Stress ausbricht, weil ich glaube, überall dabei sein zu müssen?

Pscherer: Auch wenn es vielleicht abgenutzt klingt: dabei sein, sich auf Wesentliches konzentrieren und Prioritäten setzen. Bewährtes reaktivieren und gern auch mal Neues spontan entdecken. Da können Entbehrungen der letzten Monate durchaus als Wegweiser dienen und gehegte Wünsche endlich wieder erfüllt werden, ob auf einer stillen Wandertour oder einem lauten Event. In dieser Hinsicht bietet die Pandemie sogar einen Lerneffekt: Es zählt, was wirklich wichtig ist im Leben. Etwa der eigentliche Wert der sozialen Begegnung.

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