Wenn Schmerz kein Feind mehr ist

16.1.2018, 06:00 Uhr
Wenn Schmerz kein Feind mehr ist

© Foto: Anestis Aslanidis

Wer Andreas Rupprecht sieht, kann sich kaum vorstellen, welch schwere Zeit hinter dem 38-Jährigen liegt. Ohne Mühe streckt der sportliche Schmerz- und Bewegungstherapeut seinen Rücken durch und berührt im Sitzen mit den Händen seine Zehen. Nichts weist darauf hin, dass er sich kaum bewegen konnte.

Motorradfahren war Rupprechts große Leidenschaft, bis er im September 2009 in Brünn in Tschechien verunglückt. Mit der Wirbelsäule prallt er auf den Asphalt. Seine Maschine überschlägt sich und zertrümmert seinen Fuß. In einer tschechischen Klinik stellen Ärzte neben dem Fußbruch fälschlicherweise Rippenbrüche fest. Erst als Rupprecht nach vier Tagen nach Nürnberg transportiert wird, werden mehrere Frakturen in der Brustwirbelsäule diagnostiziert. Drei Wochen wird Rupprecht stationär behandelt. Er kann nicht mehr laufen und sitzt monatelang im Rollstuhl. Also zieht er nach dem Krankenhausaufenthalt zurück zu seinen Eltern.

Im Januar 2010 startet er eine Reha, doch das Krafttraining kommt zu früh und verschlimmert seine Schmerzen nur noch weiter. Laut Experten ist aber alles verheilt und zusammengewachsen. "Damit musst du jetzt halt leben", wird ihm gesagt.

An ein normales Leben ist für den einst so umtriebigen Mann nicht mehr zu denken. Schmerzen sind allgegenwärtig, obendrein plagen ihn immer wieder Panikattacken. Er geht zu allerlei Ärzten und holt verschiedene Gutachten ein. Eine Erklärung für seinen Zustand finden die Schulmediziner aber nicht.

Rupprecht fühlt sich bald von niemandem mehr ernst genommen, selbst Freunde und Kollegen wenden sich ab. "Du willst ja nur nicht arbeiten", sagt ihm einer ins Gesicht. "Ich war zu nichts zu gebrauchen und vollgepumpt mit Schmerzmitteln und Antidepressiva", beschreibt Rupprecht diesen Tiefpunkt. Zurück in seinen alten Job bei einem Nürnberger Motorenbauer kann er nicht mehr. Er geht kaum noch aus dem Haus, seine Beziehung zerbricht nach sieben Jahren.

"Da kommt man ins Grübeln"

"An meinem 30. Geburtstag waren 125 Freunde da", erzählt der Nürnberger gefasst. "Davon ist nur eine Handvoll übrig geblieben. Da kommt man schon ins Grübeln." An seinem Zustand ändert sich wenig. Ein Jahr lang erhält er zweimal pro Woche schmerzhafte Spritzen in die Nervenbahnen seiner Wirbel – ohne Erfolg.

Erst mit seiner heutigen Partnerin Karin Weber, die er 2011 kennenlernt, kommt die Wende. Als die erfahrene Physiotherapeutin 2012 einen Vortrag des Regensburger Schmerztherapeuten Hubert Brüderlein hört, der Schmerzpatienten sucht, meldet sie ihren verzweifelten Freund sofort an. Der ist nach all den Rückschlägen zunächst skeptisch. Doch das Treffen mit Brüderlein verändert alles.

"Es waren 90 Minuten Hölle", erinnert sich der Coach. Seinen Oberkörper konnte er seit dem Unfall nur noch um zehn Grad drehen. Nach der ersten Sitzung fordert Brüderlein den Patienten auf, sich umzudrehen – und tatsächlich: Es klappt. Rupprecht kann sich 90 Prozent besser bewegen.

Inzwischen weiß der Nürnberger längst, welche Methode Brüderlein angewendet hat. Es ist die Bewegungslehre LNB Motion nach Liebscher und Bracht. Dabei geht es darum, die Muskelspannung herunterzufahren. Denn sie lässt den Schmerz entstehen. So sei es möglich, dass 90 Prozent der Patienten nur noch einen geringen Restschmerz spüren, erklärt Rupprecht. Die Therapie komme ohne Operation und ohne Schmerzmittel aus.

Der Erfolg der Therapie begeistert Rupprecht so sehr, dass er beruflich neue Wege geht. Er absolviert eine Vielzahl von Ausbildungen und lässt sich unter anderem zum Wellness- und Schmerztherapeuten ausbilden.

Tägliches Training ist nötig

Rupprecht arbeitet jetzt täglich an seiner Beweglichkeit. Regelmäßig behandelt ihn seine Partnerin, indem sie bestimmte Schmerzpunkte am Knochen drückt. Es dauert gut sieben Monate, bis die Selbstständigkeit und das Selbstvertrauen zurückkehren. Trotz allem hat der Bewegungsexperte, je nach Stresslevel, bis heute Rückschläge und heftige Einbrüche. Körperlich schwere Arbeiten sind nur sehr bedingt möglich.

Wenn Patienten zu seiner Partnerin Karin Weber und ihm in die Praxis "beFREIt – natürlich schmerzfrei" gehen, die beide seit 2015 in der Innenstadt führen, weiß der Schmerzpatient genau, was sie bewegt: "Sie kommen, weil sie ihren Schmerz loswerden und nicht operiert werden wollen, und weil ihnen keiner glaubt, dass sie Schmerzen haben."

In ihrer Praxis befragen die LNB-Schmerztherapeuten die Patienten und nehmen Tests vor. Anschließend behandeln sie sie mit einer speziellen Druckpunktpressur und vermindern ihren Schmerz oder befreien sie ganz von ihm. Individuelle Übungen sollen den Erfolg dauerhaft gewährleisten. "Jeder hat ein Recht auf ein schmerzfreies Leben", betont Rupprecht.

Auf ein Motorrad setzt er sich nicht mehr. Dank der Schmerztherapie strahlt der 38-Jährige aber wieder die Lebensfreude aus, die ihn schon vor seinem verhängnisvollen Sturz getragen hat.

 

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