Strukturelles Problem

Steigende Hilflosigkeit: Bagatell-Anrufe in Notrufzentralen nehmen zu

Minh Anh Nguyen

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13.11.2022, 06:00 Uhr
Besonders in diesem Jahr erreichen die ILS Nürnberg vermehrt Bagatell-Anrufe.

© teutopress GmbH Besonders in diesem Jahr erreichen die ILS Nürnberg vermehrt Bagatell-Anrufe.

Zwischen 1600 und 1900 Anrufe bearbeitet die Integrierte Leitstelle (ILS) in Nürnberg täglich. Die ILS Nürnberg alarmiert und koordiniert - für rund 1,2 Millionen Einwohner und eine Fläche von etwa 2000 Quadratkilometern - die zuständigen Behörden und Organisationen, die für die allgemeine Sicherheit sorgen. Darunter fallen Rettungsdienste, Feuerwehr, Einheiten des Katastrophenschutzes und viele mehr.

Besonders im letzten Jahr verzeichnete die Leitstelle steigende Fallzahlen, erklärt Marc Gistrichovsky, Leiter der ILS Nürnberg, gegenüber unserer Redaktion. Während der Pandemie-Hochzeit erreichten die Zentrale in Relation weniger Anrufe - bei den meisten handelte es sich mehr um Beratungsfragen. Doch besonders in diesem Jahr steigen die Zahlen wieder an. Die Zentrale erreicht jedoch neben Notfällen auch weniger dringende Anrufe - sogenannte Bagatell- oder auch Lappalien-Anrufe.

Auch für Kopfschmerzen, Äste in Einfahrten oder verstopfte Toiletten griffen einige Bürger schon zum Hörer, so Gistrichovsky. Um bestimmen zu können, ob es sich um einen Notfall handelt, hat die ILS Nürnberg aus diesem Grund ein festes Abfrageschema. Stellt sich heraus, dass doch kein Notfall vorliegt, kann die Zentrale dann auf andere Ansprechstellen verweisen, erklärt der Leiter. Tagsüber sollte für nicht dringende Fälle zunächst der Hausarzt verständigt werden. Außerhalb der Praxiszeiten ist der Patientenservice 116 117 für die Fälle da, für die ein Hausarzt zuständig wäre.

Bereits hier fängt aber das Problem an, führt Gistrichovsky aus: Viele Betroffene haben keinen Hausarzt und auch die Rufnummer kennen viele nicht. Einige Anrufer schildern ebenfalls, dass sie nicht durch die Leitung kommen. Die Disponentinnen und Disponenten der ILS Nürnberg erreichen dann Anrufe, die einerseits aus Unkenntnis, andererseits aus Ungeduld getätigt werden, erklärt der Leiter im Gespräch mit der Redaktion.

Steigende Hilflosigkeit

Bagatell-Anrufe mit weniger dringenden Notfällen sind nicht einfach einzuordnen. "Der Mensch am Telefon empfindet die Lage natürlich nicht als Lappalie", so der Leiter der Zentrale. Auch können Disponentinnen und Disponenten nur schwierig einschätzen, wie ernst eine Meldung am Telefon ist. Eine Bagatelle stellt sich dann oftmals erst nach Untersuchungen vor Ort heraus. "Für uns ist es dann erstmal natürlich auch keine 'Lappalie'", so Gistrichovsky. "Sonst würden wir auch keinen Rettungswagen hinschicken"

Bagatell-Anrufe, die die Zentrale erreichen, sind nicht die Mehrheit, doch der Anteil steigt, stellt der Leiter fest. In der Gesellschaft wächst zunehmend eine Hilflosigkeit. Besonders deutlich wird dabei ein Stadt-Land-Gefälle. Aus den ländlichen Regionen konnte ein solcher Trend nicht festgestellt werden, erklärt Gistrichovsky.

"Die Notfallversorgung muss neu gedacht werden"

Die Hemmschwelle sinkt - auch bei scheinbar belanglosen Fällen wählen Betroffene lieber den Notruf. Eine mögliche Erklärung hierfür ist fehlende Öffentlichkeits- und Informationsarbeit, glaubt Gistrichovsky. Viele durchblicken die Struktur der ambulanten Versorgung nicht, als Folge laufen Notaufnahmen über und Fälle müssen abgewiesen werden.

Das Problem liegt jedoch auch tiefliegender in der Systematik. "Die Notfallversorgung muss neu gedacht werden", so Gistrichovsky. Es brauche eine Lösung für die Überbelastung und ein System, um gezielt auf die Probleme der Bürger einzugehen, erklärt der Leiter der ILS. Dafür müssen andere Einsatzmittel zur Verfügung stehen, wie zum Beispiel der Zugriff auf Psychologen oder Pflegekräfte. Das Problem sei bereits lange bekannt, doch es fehle die Struktur.

Ein regionales Beispiel für einen möglichen Lösungsansatz sind die Gemeinde Notfallsanitäter der Stadt Regensburg. Die Einsatzkräfte sind hierbei in einem Pkw unterwegs und können eine Ersteinschätzung eingeben und die Fälle als niedrigschwelliger Dienst vorfiltern, erzählt Gistrichovsky.