Zölibat als »Schutzraum für Pädophile«

23.4.2010, 00:00 Uhr
Zölibat als »Schutzraum für Pädophile«

© Nahr

Treten in der katholischen Kirche gehäuft Fälle von sexuellem Missbrauch auf? Und stimmen Sie dem Augsburger Bischof Mixa zu, der dafür die sexuelle Revolution der 1960er Jahre verantwortlich macht?

Osterheider: Nein, das habe ich als besonders absurd empfunden in einer Institution, in der die sexuelle Revolution noch gar nicht angekommen ist. Mixa kommt vielmehr eine eigene, unrühmliche Rolle zu, weil er durch sein Verhalten die Opfer diskreditiert.

Kritisieren Sie tatsächlich den Zölibat, weil er die Pädophilie fördert?

Osterheider: So wäre das missverstanden. Die Priester werden nicht pädophil, weil es den Zölibat gibt. Es ist umgekehrt. Der Zölibat bietet einen Schutzraum, in dem sie ihre Pädophilie leben können.

Das müssen Sie erklären.

Osterheider: Pädophile wissen um ihre andersartige Sexualität. Pädophilie entwickelt sich in der Pubertät und verfestigt sich danach allmählich. Das trifft zeitlich häufig auf die Phase der beruflichen Orientierung. Wenn jemand merkt, dass er sexuell anders orientiert ist, wenn er zusätzlich gläubig ist, womöglich aus einem konservativ-christlichen Elternhaus kommt, kann es sein, dass er sexuelle Neigungen und religiöse Interessen verbindend unter den Deckmantel der Kirche schlüpft. Denn der Zölibat bietet Seelsorgern einen Raum, in dem sie sich dieser andersartigen Sexualität nicht stellen müssen.

Aber das belegt noch nicht, dass sich in der katholischen Kirche mehr Pädophile finden sollten.

Osterheider: Doch, unter den seelsorgerischen Mitarbeitern finden sich in Relation häufiger Pädophile. Das liegt zum Teil daran, dass die Kirche durch ihre Doktrin vornehmlich an männlichem Nachwuchs interessiert ist. Sie läuft Gefahr, dass sie Männer anzieht, die sexuell anders orientiert sind. Bei ihrer seelsorgerischen Arbeit haben sie dann Kontakt zu Kindern, an denen sie interessiert sind. Allerdings kommen katholische Priester vergleichsweise selten in Therapie. Die Kirche deckt sie bislang, versetzt sie intern. Die Kirche ist ein geschlossener Raum; da dringt das nicht so schnell nach außen.

Im Moment ist doch sehr viel von solchen Fällen die Rede, auch wenn die zum Teil lange zurückliegen. Wieso reden diese Leute erst jetzt?

Osterheider: Die seelischen Verletzungen sind zwar lebensbegleitend. Zum einen herrscht aber in Einrichtungen wie den Internaten und Schulen ein ausgeprägter Korpsgeist. Zum anderen geht es um Übergriffe in einem besonderen, geweihten Raum. Wenn, dann kommt etwas nur deutlich verspätet an die Öffentlichkeit. Wir therapieren Männer aus diesem Kreis. Sie haben gesagt, dass sie sich absolut sicher gefühlt haben und glaubten, die Ministranten würden nie reden. Sie sagen, sie hätten nicht damit gerechnet, dass sie erkannt werden. Sie nutzen bewusst die Vertrauenssituation aus.

Tun das nicht alle Pädophile?

Osterheider: Selbstverständlich. Aber das Abhängigkeitsverhältnis ist in der katholischen Kirche besonders ausgeprägt. Ich warne vor einer Pogromstimmung gegen die katholische Kirche. Aber klar ist: Wer im Kontakt mit Kindern sexuelle Befriedigung erlebt, der sucht sich passende Aufgaben. Und er findet sie dank ihrer Strukturen bei der katholischen Kirche. Aber natürlich nicht nur bei ihr. Wir hatten den Fall eines angesehenen Ingenieurs, Mitte 50, der in seiner Freizeit als Schwimmlehrer arbeitete. Er galt als gut; die Eltern haben ihm ihre Kinder gerne anvertraut. Dabei hat er sich zum Schwimmlehrer ausbilden lassen, weil er so den kleinen Mädchen nahe sein konnte.

Was ist mit ihm passiert?

Osterheider: Er hat über Jahrzehnte hinweg seine pädophile Neigung kontrolliert. Dann hat er bei seiner Nichte die Kontrolle verloren, an einem öffentlichen Badestrand. Er hat dem Mädchen körperlich nichts angetan, doch er hat seine sexuellen Fantasien weitgehend an ihr ausgelebt. Jetzt ist er in Therapie.

Ist Pädophilie denn heilbar?

Osterheider: Nicht, wenn sie sich verfestigt hat. Aber die Betroffenen können lernen, wie sie ihre Neigung kontrollieren, wenn sie noch nicht straffällig waren. Bei den Straffälligen halten wir maximal 30 bis 40 Prozent für therapier-, wenn auch nicht für heilbar. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber, dass mehr als die Hälfte nicht mehr therapierbar ist.

Wie hoch ist der Anteil der Pädophilen an der Bevölkerung?

Osterheider: Wir schätzen zwischen zwei und vier Prozent der männlichen Bevölkerung als pädophil orientiert ein. Und wir wissen, dass die Hälfte von ihnen diese Pädosexualität praktizieren wird, etwa über Kinderpornografie. Damit wird der Großteil der Pädophilen nicht tatsächlich öffentlich auffällig werden. Medizinisch auffällig aber ist er.

Ist das wirklich ein männliches Phänomen?

Osterheider: Wir forschen seit Jahren. In der ganzen Zeit habe ich eine einzige pädophile Frau erlebt. Doch, es ist ein männliches Phänomen.