Deutschland trifft Ungarn in München

Ein Hauch von Herberger: DFB-Elf will heute ins Achtelfinale

23.6.2021, 15:21 Uhr

Einsatz ungewiss: Thomas Müller muss wegen einer Kapselverletzung im Knie kürzertreten.  © CHRISTOF STACHE, AFP

Was sich im idyllisch gelegenen "Home Ground" des DFB in Herzogenaurach jenseits des Trainingsplatzes so abspielt, davon erfährt die Öffentlichkeit relativ wenig. Die prominenten Gäste sind, auch wegen Corona, meist hermetisch abgeriegelt; um einen Blick in das Innenleben dieser Nationalmannschaft zu erhaschen, bräuchte es schon clevere Spione.

Oder eben Social-Media-Junkies wie Robin Koch. Der sportlich bislang nicht benötigte EM-Tourist postete via Instagram einen kurzen Videoclip, der zeigt, wie die Generation Playstation ihre Freizeit bisweilen eben auch verbringen kann. Zu sehen sind Joshua Kimmich, Kevin Volland und Serge Gnabry, die sich singend und gitarrenschrammelnd am Refrain von "What’s Up" versuchen, jener kirchentags- wie lagerfeuerkompatiblen Feminismushymne des One-Hit-Wonders 4 Non Blondes aus dem Jahre 1992.

Es mag nur eine vielleicht marginale Momentaufnahme sein, doch lässt sie erahnen, dass, anders als bei der desaströsen WM 2018 in Russland, die Chemie im dezent modifizierten Kader diesmal tatsächlich zu stimmen scheint. Hatte das von zu großer Zurückhaltung geprägte 0:1 zum Auftakt gegen Frankreich noch latente Zweifel an einem funktionierenden Kollektiv genährt, war es Joachim Löws Elf bei der Gala gegen Portugal (4:2) gelungen, den Teamgeist auch auf den Rasen zu transportieren. Die Frage bleibt, ob der phasenweise furiose Vortrag ein Strohfeuer war oder ob es Deutschlands Vorzeigefußballern wieder gelingt, in ihrem Tun eine gewisse Konstanz zu entwickeln.

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Der Prüfstein heißt am Mittwoch (21 Uhr/ZDF und Magenta TV) Ungarn, und allein dass der vermeintliche Außenseiter in der Gruppe F dem Weltmeister ein 1:1 abgetrotzt hat, sollte jeglichen Anflug von Überheblichkeit verbieten. "Wir wissen schon, dass da wieder eine gute und gefährliche Mannschaft auf uns zukommt", beteuerte Verteidiger Matthias Ginter, Offensivkollege Kai Havertz mahnte: "Es ist noch nicht vollbracht."

Erst 3:8, dann 3:2

Die deutsche Turnierbilanz gegen die Magyaren ist überschaubar. Bei insgesamt 34 Duellen sind nur drei Pflichtspiele verbürgt, die letzten beiden allerdings mit historischer Dimension. Da ist natürlich das legendäre 3:2 im WM-Finale 1954, jenes "Wunder von Bern", das mithalf, Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aus der kollektiven Depression zu führen. Als wichtiges Kapitel dieses frühen Fußballmärchens gilt aber auch das 3:8-Debakel in der Vorrunde.

Bundestrainer Sepp Herberger hatte gegen die vermeintlich eh übermächtigen Ungarn etliche Stammkräfte wie Toni Turek, Fritz Laband, Berni Klodt, Max Morlock, Ottmar Walter und Hans Schäfer geschont und eine Niederlage bewusst in Kauf genommen, um für das Entscheidungsspiel gegen die Türkei gerüstet zu sein. Ein taktisches Manöver, das voll aufging, auch weil die siegesgewissen ungarischen Ballkünstler um Nándor Hidegkuti und Ferenc Puskás den Gegner beim Wiedersehen im Wankdorf-Stadion wohl dezent unterschätzt hatten.

Das dürfte diesmal kaum passieren, auch für Bluffs und personelle Rochaden ist 67 Jahre später kein Platz. Zwar würde für den Einzug ins Achtelfinale schon ein Remis reichen, drei weitere Punkte könnten aber, sollte die Partie zwischen Frankreich und Portugal zeitgleich unentschieden enden, sogar noch den Gruppensieg bescheren – und damit einen vermeintlich leichteren Kontrahenten. In Bukarest ginge es dann gegen einen Gruppendritten. Bei Rang zwei würde in London England oder Tschechien warten. Als Dritter bekäme man es mit Belgien oder den Niederlanden zu tun. Bei einer Niederlage droht sogar der Sturz ans Tabellenende – und das Vorrundenaus.

“Kein Risiko“ bei Müller

Daran mag aber niemand mehr denken. Am allerwenigsten die bajuwarische Frohnatur Thomas Müller, deren Einsatz wegen einer schmerzhaften Kapselverletzung im rechten Knie höchst fraglich scheint. Dass der Routinier zumindest als Joker zum Zuge kommen könnte, wollte Löw am Dienstagabend zwar noch nicht ausschließen, man werde aber "kein Risiko eingehen".

Müllers Platz als Organisator der Offensivreihe mit Havertz und Gnabry dürfte dann Leon Goretzka einnehmen. "Ich fühle mich im Turnier angekommen und traue mir die Rolle zu", verkündete der 26-Jährige, der selbst erst eine Oberschenkelblessur auskuriert hat und gegen Portugal ein 17-minütiges Comeback geben durfte. Auch Mats Hummels (Patellasehnenreizung) und Ilkay Gündogan (Wadenprobleme) sind einsatzbereit.

Und vielleicht taugt ja die neue Liebe zur Musik als gutes Omen. Gemeinsam gesungen wurde nämlich auch schon 1954. So ließ Herberger der Legende nach seine frustrierten Verlierer auf der dreieinhalbstündigen Rückfahrt nach dem 3:8 zur Stimmungsaufhellung das eine oder andere Liedchen anstimmen. Zwei Wochen später waren sie: Weltmeister.