Fehlender Sport für Kinder und Jugendliche: Das sind die Folgen

18.2.2021, 06:00 Uhr
Da hilft auch keine Maske: Wegen Corona ist der meiste Sport zurzeit verboten.

© Philippe Degroote via www.imago-images.de, NN Da hilft auch keine Maske: Wegen Corona ist der meiste Sport zurzeit verboten.

Wie viel Sportunterricht ist tatsächlich ausgefallen? Die Datenlage ist dünn, eine nicht-repräsentative Studie aus dem Frühsommer 2020 lässt Schlimmes erahnen: Lediglich zwei Prozent der Schulkinder in Deutschland hatten in der damals zurückliegenden Woche Online-Sportunterricht gehabt. Es handelte sich um eine Befragung in zehn europäischen Ländern, die in Deutschland der Bremer Sportwissenschaftler Mirko Brandes geleitet hat. In anderen Staaten waren es teils mehr als 60 Prozent, Deutschland wurde: Schlusslicht.

Die Gesundheit

"Das Gewicht steigt, ganz viele werden deutlich dicker", sagt der Nürnberger Doktor Michael Kandler, der auch Vorsitzender des Kinderärzteverbundes "Paednetz Mittelfranken" ist. Dies habe jedoch weniger mit "der einen Sportstunde", sondern mit den allgemeinen Kontaktbeschränkungen zu tun, die er nichtsdestotrotz für richtig hält. Um den daraus resultierenden Bewegungsmangel auszugleichen, so der Arzt weiter, sei jeder gefragt. Eltern zum Beispiel sollten täglich 30 bis 40 Minuten mit ihren Kindern vor die Tür gehen. "Ich selbst mache jetzt Langlauf, obwohl ich Langlauf hasse."


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Noch eine Studie: Zwei Karlsruher Forschungseinrichtungen haben herausgefunden, dass sich Kinder während des ersten Lockdowns täglich 36 Minuten länger bewegten als zuvor. Klingt überraschend gut? Leider ist damit nur die Alltagsbewegung in einem außergewöhnlich warmen Frühjahr gemeint, nicht aber der intensivere Sport. Zwar nahm der sogenannte "unorganisierte Sport" um 18 Minuten zu, was aber nicht den fehlenden Vereinssport ausgleichen konnte, der um 28,5 Minuten abnahm. In Deutschland sind fast zwei Drittel aller Kinder und Jugendlichen in einem Sportverein aktiv.

Der Stadtverein

Seit November schon sind die Hallen und Plätze ein zweites Mal gesperrt. Einige der Vereine wie der ATV 1873 Frankonia Nürnberg bieten ihren Mitgliedern ersatzweise Online-Kurse an. "Wir versuchen alles, was geht", sagt Pressesprecherin Susanne Hausenbigl. Rund 25 Videos kämen pro Woche zusammen, entweder live oder aufgezeichnet.

Der ATV Frankonia ist mit rund 2500 Mitgliedern einer der größten Vereine Nürnbergs – die Hälfte davon sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Hausenbigl: "Kinder sind unser Hauptklientel." Auch die Mehrzahl der Online-Videos richtet sich an sie. Trotzdem hat der ATV Frankonia im Jahr 2020 vor allem die unter 18-Jährigen verloren – im Saldo betrachtet ist der Mitgliederschwund von fast 150 sogar vollständig auf Kinder und Jugendliche zurückzuführen. "Und das ist natürlich fatal", sagt Robin Filusch, Vorsitzender der ATV Frankonia. Schließlich sind sie der Nachwuchs des Vereins, der insgesamt bislang "mit einem blauen Auge" davongekommen ist.

Noch. Spricht Filusch über 2021, fallen Worte wie "bedrohlich", denn ein jeder Treuebonus "ist irgendwann aufgebraucht". Dazu passt, dass Pressesprecherin Hausenbigl seit einigen Wochen mehr Kündigungen beobachtet – obwohl die nächste Gelegenheit zum Austritt erst im November besteht. Ihre Erklärung: "Ich denke, es geht den Leuten schlechter. Die Menschen werden langsam müder."


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Ist die Größe des ATV Frankonia dabei ein Vor- oder Nachteil? "Weil wir die Manpower haben", habe er leichter ein umfangreiches Online-Angebot auf die Beine stellen können, meint Hausenbigl, die selbst Teil der aktuell kurzarbeitenden, hauptamtlichen Verwaltung ist. Auf der anderen Seite, so Vorstand Filusch, resultieren daraus und aus den umfangreichen Sportanlagen hohe Fixkosten. Für letztere muss der ATV Frankonia auch noch Kredite abbezahlen.

Der Dorfverein

Ganz anders die Lage im fränkischen Seenland? "Es ist nicht so, dass wir wegen Corona mehr Geld haben", sagt Jakob Bauer, Vorsitzender des TSV Röttenbach. Die Einnahmen seien zwar um rund 10 000 Euro gesunken, doch das sei "wenig dramatisch", weil der TSV schuldenfrei ist und ausschließlich von Ehrenamtlichen getragen wird.

Kinder und Jugendliche machen ein Drittel der rund 600 Mitglieder aus. Obwohl der Verein laut Bauer keinerlei Online-Kurse anbietet, ist die Mitgliederzahl bislang konstant geblieben. "Man ist halt im Verein", auch tue der niedrige Mitgliedsbeitrag niemandem weh. "Die Strukturen hier sind andere als bei einem großen Verein, wo ich zweckgebunden eintrete" – etwa, um Fitnesssport zu beitreiben. Einzige Auffälligkeit: Bei den Kindern ist die Zahl der Neuzugänge geringer.


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Sorge bereitet Bauer etwas anderes: Er befürchtet, dass sich die Jugendlichen vom Vereinssport entwöhnen könnten, beispielsweise zugunsten des boomenden E-Sports. "Wenn ich Fußball auf dem Sofa spielen kann, wieso sollte ich dann zum Verein gehen?" Bauer, der selbst Schiedsrichter und Trainer war, beobachtet bei sich selbst: "Ganz ehrlich, ich halte den Sonntag ohne Fußball inzwischen aus."

Die Wirtschaft

Fußballfreie Sonntage, die sich auch auf den Verkauf von Kindersportartikeln auswirken dürften. "Seit Corona verkaufen wir generell kaum Sportartikel", sagt Erwin Bäumler, Inhaber von Sport Lang aus Lauf. "Ob Kinder oder Erwachsene, das Geschäft läuft eigentlich gleich schlecht." Heißt: "Mindestens zwei Drittel weniger Umsatz" während des zweiten Lockdowns.

Nachfragen bei anderen Einzelhändlern ergeben, dass Kinder als Zielgruppe schon vor Corona an Discounter und die Outlets in Herzogenaurach verloren waren. Und wenn wir schon dort sind: Puma darf nichts sagen, weil bald deren Jahreszahlen herauskommen. Adidas sagt etwas, allerdings nur dazu, was für Produkte sich gerade besonders gut verkaufen.

Der Profinachwuchs und die Fans

Wie sieht es dagegen bei den Profimannschaften aus? Könnte sich eine sportentwöhnte Jugend langfristig auch auf deren Nachwuchsarbeit auswirken, wo doch jede Karriere in einem Amateurverein beginnt? "Das will ich so nicht annehmen", sagt René Selke, Geschäftsführer des HC Erlangen. Er ist überzeugt, dass das grundsätzliche Interesse am Sport bestehen bleiben wird. Einige Nachwuchshandballer werden den Zugang vielleicht später finden, aber: "Ich glaube, dass sich das nachholen lässt." Die Frage sei nur, ab wann und wie schnell. Auch, was die junge Generation an Fans angeht, ist Selke optimistisch, "dass dann auch wieder der Drang da ist." Schon heute würde der HCE viele Zuschriften erhalten: "Die Leute verspüren große Lust!"

Von nur schwer einzuschätzenden Auswirkungen spricht Holger Schwiewagner, Geschäftsführer der SpVgg Greuther Fürth. "Vielleicht wird es nach Ende des Lockdowns auch eine vermehrte Nachfrage seitens der Familien nach Sportaktivitäten geben." Im Stadion jedenfalls würden die jüngeren Anhänger genau wie die Älteren fehlen. Mit Mal- und Bastelunterlagen wie auch Trainingsvideos für zu Hause versuche das Kleeblatt, Familien bei der Stange zu halten. Insbesondere der soziale Kontakt komme bei virtuellen Einheiten jedoch zu kurz, so Schwiewagner.

Die sozialen Faktoren

Sport ist eben mehr als nur Bewegung, Schweiß und Wettkampf. Das zeigen allein schon die um 10.000 Euro gesunkenen Einnahmen des TSV Röttenbach, die laut dem Vereinsvorsitzenden Bauer vor allem auf fehlende Speisen- und Getränkeverkäufe zurückzuführen sind. Finanzielle Einbußen also, die für einen Verlust an Geselligkeit stehen.

Daneben hat Sport für Kinder und Jugendliche noch eine weitere – und bei aller Liebe zur Bratwurst am Spielfeldrand auch wichtigere – Funktion: In Schulen und Vereinen sollte er zumindest im Idealfall ausgleichen, was Eltern ihren Kindern an Bewegung vorleben. Denn das wiederum hängt von deren Einkommen, beruflichem Status und Bildungsstand ab, sagt die Bayreuther Sportwissenschaftlerin Susanne Tittlbach: "Die Situation ist wirklich prekär, weil die moderierenden Einflüsse außerhalb der Familie gerade fast auf null heruntergefahren werden." Das könnte die soziale Ungleichheit in Sachen Bewegung weiter ansteigen lassen.


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Pausieren muss auch ein besonderes Team vom VfL Nürnberg. "Die Mannschaft an sich ist echt gut, aber die Umstände nicht", sagt ihr Trainer Mohamad Walid Chama. Ausgerechnet im Februar 2020, rund einen Monat vor dem ersten Lockdown, hatte sich seine "Integrationsmannschaft" mit rund 25 Spielern offiziell gegründet. Alle sind Geflüchtete oder haben eine andere Migrationsgeschichte. "Die meisten sind 19 bis 20 Jahre alt", sagt Chama, ein paar sind sogar noch minderjährig. Richtig durchstarten konnten sie nie, schon nach wenigen Wochen mussten sie das erste Mal kürzertreten. Im Herbst dann immerhin einige wenige Spiele in der B-Klasse, bevor es erneut in die Zwangspause ging.

Was dabei auf der Strecke blieb, wird deutlich, wenn man Chama nach der Bedeutung des Wortes Integration fragt. "Die Mannschaft sollte von Anfang an ein Stück Heimat sein", antwortet er dann – und beginnt aufzuzählen: Die Spieler hätten sich untereinander anfreunden sollen, in anderen Mannschaften des VfL mitspielen sollen, in Trainerrollen schlüpfen sollen, den Rest des Vereins kennenlernen sollen, und und und. "Wir waren schon gut dabei" – bis Corona kam.

Aber auch hier: Neben all der Enttäuschung und Traurigkeit erzählt Chama, wie motiviert und begeistert die jungen Sportler noch immer sind. Fast jeden Tag fragen sie ihn in der Chatgruppe: "Wann können wir wieder spielen?"

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