Hohe Anspruchshaltung, niedriger Stellenwert

Kommentar: Deutschland ist längst kein Sportland mehr

Sebastian Böhm

Sportredaktion

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26.7.2022, 14:43 Uhr
Keine Witzfigur, sondern eine Heldin: Lea Meyer stürzt in den Wassergraben, rennt weiter.

© IMAGO/BEAUTIFUL SPORTS/Olaf Rellisch Keine Witzfigur, sondern eine Heldin: Lea Meyer stürzt in den Wassergraben, rennt weiter.

Mittlerweile dürfte jeder gelesen haben, dass die deutsche Leichtathletik „auf einen Abgrund zurast“ (Mitteldeutsche Zeitung), in Eugene ein „Debakel mit Ansage“ (spiegel.de) erlebt habe und dass es einer „schonungslosen Analyse“ (sportschau.de) bedürfe. Illustriert wurden die Kommentare mit dem spektakulären Foto der Hindernisläuferin Lea Meyer, die im Vorlauf kopfüber in den Wassergraben stürzte. Das passt natürlich wunderbar – ist ja egal, dass Meyer danach patschnass weitergelaufen ist und noch Achte wurde.

Deutsche Leichtathleten, nein, deutsche Individualsportler generell, kennen das seit Jahren. Weitgehend unbemerkt rennen, springen, ringen, schwimmen oder werfen sie, trainieren hart, werden besser, bereiten sich auf Großereignisse vor, stellen berufliche Karrierepläne zurück, verzichten auf Partys, Urlaube, das Bier am Abend mit den Freunden am Fluss, die Nacht im Club und letztlich auch auf Geld, verfolgen amüsiert die Saisondebatten über gleichberechtigte Bezahlung im Fußball, unterbieten die Qualifikationsnormen für internationale Großereignisse, zählen zum Beispiel zum 78 Menschen starken Aufgebot für die Leichtathletik-WM in Eugene, stürzen vielleicht, bleiben hinter ihren eigenen Erwartungen zurück oder bestätigen sogar ihre Vorleistungen und werden trotzdem vereinnahmt in der Kritik an Sportarten, die einst populär waren, mittlerweile aber weit außerhalb der breiten öffentlichen Wahrnehmung stattfinden.

Neue Fabelweltrekorde? Egal!

Ja, in der Leichtathletik, im Schwimmen und vielen weiteren Disziplinen wurden Fehler gemacht, haben Verbände nicht rechtzeitig auf gesellschaftliche Entwicklungen oder Entwicklungen in der Trainingssteuerung und -planung reagiert. Die Anspruchshaltung eines Landes aber, das sich um Sport im Alltag nicht schert, es sich aber herausnimmt Sportler, gnadenlos dafür zu kritisieren, dass sie Sport zwar auf höchstem nationalen, aber eben nicht auf höchstem internationalen Niveau betrieben, ist schon bemerkenswert unfair.

In Eugene hat die US-Mannschaft 32 Medaillen mehr geholt als die deutsche. Dass Elite-Universitäten für den Sport aber über Budgets verfügen, von denen den deutsche Individualverbände für das ganze Land nur träumen können, wird in keiner der Analysen erwähnt. Dass in Eugene Menschen aus weiteren 43 Ländern Medaillen überreicht bekommen haben, ebenso nicht. Auch nicht, dass davon viele in den USA trainieren, weil sie dort die besten Bedingungen haben. Und dass in manchen Disziplinen derweil Weltrekorde aus der Anabolika-Hochzeit angegriffen und verbessert werden? Egal.

Vereine in Not

Dem überlegen organisierten Schul- und Universitätssport in (zum Beispiel) den USA hatte man in Deutschland über Jahrzehnte einen breiten und erfolgreichen Vereinssport entgegensetzen können. Nur hat man die Vereine seit langem alleine gelassen. Im Jahr 2022 geht es für viele nur noch darum, marode Vereinsgelände zu finanzieren, Menschen zu finden, die sich ehrenamtlich oder als Übungsleiter engagieren oder ob eines massiven Mitgliederschwunds überhaupt zu überleben. Leistungssport bleibt dabei Zufall. Und dass Sport an Schulen an letzter Stelle steht, dass Sportstunden als Erstes gestrichen werden und Turnhallen über Jahre gesperrt sind, das hat nicht erst die Pandemie offenbart.

Deutschland, das Land von Max Schmeling, Ulrike Meyfarth und Franziska van Almsick, ist schon lange kein Sportland mehr. Das ist die Wahrheit. Und diejenigen, die sich trotzdem noch der internationalen Konkurrenz stellen, die unter schwierigen Bedingungen kämpfen, rackern und Opfer bringen, die sollte man feiern und nicht öffentlich pauschal für gesamtgesellschaftliche Fehlentwicklungen kritisieren, die sie nicht zu verantworten haben.

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