Befürchtete Insolvenzflut bleibt bisher aus

Pleitewelle wegen Corona? Experte überrascht mit Erkenntnissen

16.9.2021, 06:00 Uhr
Angesicht der wieder in Kraft getretenen Insolvenzantragsordnung haben viele Experten ein Massensterben am Markt befürchtet. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. 

© imago images/Sascha Ditscher, NN Angesicht der wieder in Kraft getretenen Insolvenzantragsordnung haben viele Experten ein Massensterben am Markt befürchtet. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. 

"Hätten Sie mich vor einem Jahr gefragt, hätte ich vermutet, dass uns die Arbeit überrennt", sagt Stefan Debus, Insolvenzverwalter bei der Nürnberger Kanzlei Müller-Heydenreich Bierbach & Kollegen.

Eine Erklärung ist, dass die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht ab März 2020 ohnehin nur Unternehmen gewährt wurde, die ausschließlich aufgrund der Corona-Krise drohten zu überschulden beziehungsweise zahlungsunfähig zu werden. Wer schon zuvor wankte, blieb von diesem Schutzmechanismus ausgenommen.

Im Oktober 2020 entfiel die Befreiung dann für Betriebe, die zahlungsunfähig waren, die also mindestens zehn Prozent ihrer laufenden Verbindlichkeiten nicht begleichen konnten. Lediglich überschuldete Unternehmen waren bis 1. Januar 2021 von der Antragspflicht befreit. Bis Ende April galt die Regel dann nur noch für Betriebe, für die noch staatliche Überbrückungshilfen ausstanden.
Zeigt das Instrument der Bundesregierung also tatsächlich Wirkung, wurde ein Massensterben am Markt verhindert? War die Befürchtung, dass durch die Aussetzung der Meldepflicht tausende Unternehmen nur künstlich am Leben erhalten wurden, falsch?

Rechtsanwalt und Insolvenzverwalter Dr. Stefan Debus ist spezialisiert auf Betriebsfortführungen und Sanierungen. Über große Erfahrung verfügt er in den Branchen Automotive, Finanzdienstleistungen, Einzelhandel, Soziales und Gesundheitswesen, Maschinenbau, Gastronomie und in der Baubranche. Er ist überzeugt: Je früher ein Antrag gestellt wird, umso höher die Sanierungschancen.

Rechtsanwalt und Insolvenzverwalter Dr. Stefan Debus ist spezialisiert auf Betriebsfortführungen und Sanierungen. Über große Erfahrung verfügt er in den Branchen Automotive, Finanzdienstleistungen, Einzelhandel, Soziales und Gesundheitswesen, Maschinenbau, Gastronomie und in der Baubranche. Er ist überzeugt: Je früher ein Antrag gestellt wird, umso höher die Sanierungschancen. © Kanzlei MHBK, NN

"Schon vor der Pandemie waren die Insolvenzzahlen in Deutschland jahrelang rückläufig", sagt Vera Demary vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW), 2020 lagen sie bei rund 16.000. "Die Maßnahmen während der Pandemie – wie die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, aber auch die Corona-Hilfen – hatten das Ziel, Unternehmen mit tragfähigen Geschäftsmodellen über die Krise hinwegzuhelfen. Dies war gut und richtig und hat sicherlich auch zahlreiche Insolvenzen verhindern können."

Schicksale jenseits der Statistik

Diese Einschätzung teilt auch Insolvenzverwalter Debus. Er gibt allerdings zu bedenken, dass zwar die Zahl der Insolvenzanträge bei Unternehmen bisher nicht gestiegen seien, die der Privatinsolvenzen aber sehr wohl. "Kleinstunternehmer, Ich-AGen, Kulturtreibende – es hat viele Schicksale gegeben, die in der Statistik nicht auftauchen." Bisweilen hätten Geschäftsleute auch schlicht ihr Gewerbe abgemeldet. Ganz so rosig, wie die Zahlen vermitteln, ist die Lage also offenbar nicht.

Tatsächlich verzeichnete die Wirtschaftsauskunftei Creditreform im ersten Halbjahr rund 46.000 Privatinsolvenzen, ein Plus von 62,9 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum 2020. Ein Grund neben Corona ist hier Debus zufolge aber auch eine Gesetzesreform, die die Zeit bis zur Restschuldbefreiung in Insolvenzverfahren von sechs auf drei Jahre verkürzt. Um schneller schuldenfrei werden zu können, haben dem Insolvenzverwalter zufolge vermutlich viele den entsprechenden Beschluss des Bundestages vom Dezember 2020 abgewartet und erst jetzt Verbraucherinsolvenz angemeldet. Das könnte die derzeitige Häufung erklären.

Fataler Makel des Scheiterns

Bei der Zahl der Unternehmensinsolvenzen hingegen zeigt der Trend klar nach unten. Ging etwa das Statistische Bundesamt in seiner ersten Prognose zunächst davon aus, dass der Mai 2021 dem des Vorjahresniveaus entsprechen würde, korrigierte es sich jüngst. Statt ähnlich hohe Zahlen wie im bereits von Corona gezeichneten Mai 2020 verzeichneten die Statistiker für Mai 2021 einen Rückgang der Unternehmensinsolvenzen um 25,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat.

Ob die Zahl der Unternehmenspleiten im Verlauf des Jahres noch steigen werde, sei schwer vorherzusagen, sagt Debus. Er glaube persönlich aber nicht mehr an eine Flut, sondern meine eher, dass sich die Zahl auf Vor-Corona-Niveau einpendeln werde.

Auch IW-Sprecherin Demary erwartet keine Welle mehr: "Je nach Entwicklung der Corona-Situation und der durch die Politik ergriffenen Maßnahmen werden Unternehmen einzelner Branchen – wie etwa die Tourismus- oder die Veranstaltungsbranche – möglicherweise erneut in Schwierigkeiten geraten", sagt sie. Auch werde ein gewisser Nachholeffekt bei den Insolvenzen nicht auszuschließen sein. "Eine grundsätzliche Abkehr vom Trend der jahrelang fallenden Insolvenzzahlen ist meiner Meinung nach jedoch unwahrscheinlich."

Diese Meinung vertritt auch Lucas Flöther, Sprecher des Gravenbrucher Kreises, eines Zusammenschlusses führender Insolvenzverwalter. Allerdings aus einem pragmatischen Grund: Viele Geschäftsleute wären seiner Ansicht nach schlicht noch nicht darüber informiert, dass die Insolvenzpflicht wieder gelte. "Es wird einige Zeit dauern, bis es sich herumgesprochen hat, dass die Antragspflichten nach wie vor gelten", sagt Flöther im Gespräch mit dem Business Insider.

Warnzeichen beachten

Der Nürnberger Insolvenzverwalter Stefan Debus mahnt vor diesem Hintergrund dringend zu einem kritischen Blick in die eigenen Bücher. "Manche verschließen die Augen vor der Lage, öffnen keine Rechnungen mehr. Davon kann ich nur abraten. Zu denken, dass man nichts für seine Misere kann, schützt nicht vor zivil- oder strafrechtlicher Verantwortung."

Manchmal, so fügt Debus hinzu, müsse man aber auch einfach "das Licht ausmachen". "Die allermeisten Unternehmer sind sehr engagiert, aber bisweilen in ihrem Fleiß einfach nicht effektiv", sagt er. "Manchmal hat ein Geschäftsmodell auch schlicht ausgedient."

So tragisch das für die Beteiligten sei, diene eine Insolvenz auf diese Weise auch einer gewissen Marktregulierung. "Wo Neues entstehen soll, muss auch Altes sterben," sagt Stefan Debus.

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