Lenas Kampf gegen die Konventionen

1.6.2015, 12:15 Uhr
Lenas Kampf gegen die Konventionen

© Foto: André Ammer

Beim Wort Heimatroman denken heute viele Menschen nur an Kitsch und Sentimentalität. Das war aber keineswegs immer so. In dem einst weit verbreiteten Buch „Die deutsche Literatur unserer Zeit“ von Kurt Martens werden im Kapitel „Tradition und Selbstbeschränkung“ so gewichtige Autoren wie Oskar Maria Graf, Robert Walser oder der spätere Nobelpreisträger Hermann Hesse als Heimatdichter bezeichnet. Für Willi Weglehner gehören überdies einige der spätromantischen Texte des Schlesiers Gerhart Hauptmann zur Heimatliteratur.

„Hanneles Himmelfahrt“, Hauptmanns heute kaum noch bekannte Traumdichtung, spielt in Weglehners neuem Buch eine wichtige Rolle. Wie jenes Hannele, so hat auch seine gegen Ende des 19. Jahrhunderts geborene Roman-Heldin Lena in ihrer Kindheit unter der Tyrannei eines versoffenen Vaters gelitten. Nachdem sie zufällig Hauptmanns Rührstück in einer Aufführung wandernder Schauspieler gesehen hat, wird die Bühnen-Figur nach und nach zu ihrem in Notsituationen herbeifantasierten, tröstlichen Über-Ich.

Was Hauptmann in seinem Werk nur als Traum und frommen Wunsch zeigt, nimmt in der Darstellung von Willi Weglehner die Züge von Neurose und Psychose an.

Nach dem Selbstmord ihres Tyrannen-Vaters, an dem Lena nicht ganz unschuldig ist, stirbt auch bald die Mutter. Lena muss in der Folge nicht nur mehr oder minder alleine den elterlichen Bergbauernhof bewirtschaften, sondern auch für mehrere jüngere Geschwister sorgen.

Die „Besuche“ von Hannele sind ihr einziger Trost. Doch dann taucht plötzlich der tüchtige Egid auf, der Lena in jeder Hinsicht behilflich ist, und schließlich auch ihr Ehemann wird. Natürlich ist damit bei Weglehner nicht alles schön und gut. Die seelisch angeschlagene Lena beginnt, gegen das im bäuerlichen Leben vor 100 Jahren übliche Los der ständig arbeitenden, ständig schwangeren und gebärenden Frauen aufzubegehren. Der Ehemann hat dafür wenig Verständnis, ein unausweichlich nahender Ehe-Konflikt wird jedoch durch den Krieg zwischen 1914 und 1918 verzögert.

Egid muss zu den Soldaten und kommt erst nach Kriegsende als Schwerversehrter auf den Hof zurück. Mit dem Schicksal hadernd, verfällt er zunehmend dem Alkohol. Lena sieht sich vermeintlich endgültig jeder menschlichen Stütze beraubt. Rückhaltlos ihrem Hannele-Wahn ausgeliefert, hegt sie immer dunklere, abseitigere und schließlich sogar mörderische Ideen und Pläne.

Weglehner zeigt Menschen in einer Zeit der Verunsicherung und des epochalen Umbruchs. Seine Lena ist nicht gesund und froh, nicht gläubig und demütig, ihre kleine, überschaubare Welt ist alles andere als heil. Die Religion der Vorväter bietet ihr kaum mehr Trost, das Böse kommt für sie nicht mehr nur von Außen, vom Fremden, vom Neuen aus der unbekannten weiten Welt.

Bezeichnenderweise erfährt sie Hilfe in höchster Not nicht vom Dorfpfarrer, der sie mit ein paar formelhaften Sprüchen abfertigt, sondern von einem Arbeiter einer nahen Säge-Mühle. Weglehners ganz bewusst etwas altertümelndes Vokabular ist manchmal ein bisschen irritierend, sollte den potenziellen Leser aber nicht abschrecken. Lesenswert ist die tragische Lebensgeschichte der Berghof-Bäuerin Lena allemal.

Willi Weglehner: Flieg, Engerl. Mabase-Verlag, 232 Seiten, 17,80 Euro.

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