"Im Internet findet auch viel Befreiung statt"

24.5.2017, 19:38 Uhr

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Frau Hecht, Ihr Vortrag steht unter dem Motto "Früher hatte ich Elan, heute habe ich WLAN". Macht uns die ständige Internetnutzung tatsächlich schlapp?

Magdalena Hecht: Nein, ich glaube nicht, dass wir weniger Elan als früher haben. Mit dem Titel wollte ich ausdrücken, dass wir heute beides haben, aber gleichzeitig eine andere Art Elan brauchen, um damit zurechtzukommen. Schließlich ist mittlerweile unser ganzer Alltag von der Digitalität geprägt und das verändert unsere Wahrnehmung der Welt. Man muss ob der ganzen Möglichkeiten viel mehr Entscheidungen treffen. Die Auswahl ist riesig, immer und überall.

 

Aber kann uns nicht genau das müde machen?

Hecht: Das muss nicht unbedingt sein. Internetkonsum an sich ist nichts Passives, im Netz findet ja auch vieles gemeinschaftlich und im Austausch miteinander statt. Die Frage ist nur, wie wir das Angebot gut für uns nutzen. Die Gefahr, dass diese riesige Auswahl lähmend wirkt, besteht natürlich schon. Deshalb müssen wir einfach sehr bewusst damit umgehen.

 

Behandeln Sie denn auch schon Patienten, die der ausgiebige Internetkonsum krank gemacht hat?

Hecht: Das Thema spielt natürlich in der Therapie eine Rolle. Aber es ist nicht das Internet, das uns krank macht! Das Internet bietet nur eine riesige Projektionsfläche für Gefühle, die uns ängstigen oder die inakzeptabel scheinen. Ob ich diese nun am Stammtisch rauslasse oder in einer Facebook-Gruppe, dahinter steckt in beiden Fällen derselbe Mechanismus.

 

Aber es bekommen viel mehr Menschen mit, wenn im Netz ein Shitstorm tobt.

Hecht: Das stimmt, deshalb sollten wir in diesem Bereich besonders wachsam sein. Problematisch ist auch die personalisierte Suche im Netz. Algorithmen treffen eine Auswahl der Nachrichten auf unserer Startseite, die auf unserem eigenen Verhalten basiert. Sie sorgen so dafür, dass sich unser Weltbild ständig bestätigt innerhalb dieser sogenannten Filterblase. Darin besteht tatsächlich eine Gefahr. Dem kann man nur begegnen, indem man sich das bewusstmacht und kritisch auf die angebotenen Informationen schaut.

 

Doch im allzu ausufernden Surfen sehen Sie keine Gefahr?

Hecht: Natürlich gibt es Menschen, die damit Probleme haben. Aber deren Probleme wären auch ohne Internet da. Wer sich bloßgestellt fühlt, weil er nicht genügend "Likes" auf Facebook bekommt, der hatte früher am Stammtisch keinen festen Platz oder durfte in der Turnhalle nicht mitspielen. Verändert hat sich nur die Plattform. Triebe und Gefühle bahnen sich immer einen Weg, im Internet und offline. Sie sich bewusster zu machen und einen konstruktiveren Umgang zu finden — da setzt unsere Therapie an.

 

Im Internet ist aber das Publikum ungleich größer.

Hecht: Dass alles sichtbarer wird, macht tatsächlich etwas mit uns. Aber auch das hat Vor- und Nachteile. Negativ ist, dass Hass und Vorurteile andere anstecken können. Positiv ist, dass man sich immer an andere wenden kann. Man sieht, dass man nicht allein ist. Im Internet findet auch viel Befreiung statt, etwa wenn ich merke, dass der andere auch mit Einsamkeit oder speziellen Bedürfnissen zu kämpfen hat.

 

Sie sagen, das Internet könne auch Heimat sein. Wie ist das gemeint?

Hecht: Natürlich ist das Netz an sich keine Heimat. Aber dank WLAN habe ich ein Stück Heimat immer dabei. Ich bin im Nu verbunden mit Freunden und Familie daheim, egal ob per Skype oder WhatsApp. Der Heimatbegriff hat sich dadurch verändert und ausgedehnt.

 

Zuhause ist also da, wo ich mich
mit meiner Facebook-Gruppe austauschen kann?

Hecht: Ein Stück weit schon. Der Einzelne definiert sich immer über das Erleben und in Gruppen, egal, ob er nun dazugehört oder sich abgrenzt. Es wäre aber schön, wenn wir gerade im Netz die Gruppenzugehörigkeit manchmal auch hinterfragen würden, denn sie beinhaltet immer auch die Ausgrenzung des Anderen und Fremden. Dabei steckt hinter den meisten Gruppen nur eine ganz oberflächliche Einteilung, die nur einen bestimmten Anteil einer Persönlichkeit aufgreift. Diese Auswahl lässt sich ganz leicht verändern. Jemand kann schwarz oder weiß sein, Mutter oder Nicht-Mutter, traurig oder glücklich — die Kategorien sind endlos. Wenn man es so betrachtet, ist das vermeintlich "Fremde" oft nur eine Variation des Eigenen.

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