2. September 1968: Gottesdienst unterm Zeltdach

2.9.2018, 07:00 Uhr
2. September 1968: Gottesdienst unterm Zeltdach

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Im Sonntagsstaat oder im Overall, direkt von der Arbeit, kamen die Schausteller vereinzelt oder mit der ganzen Familie ebenso wie viele Nürnberger, um die Predigt von Pfarrer Eugen Stegmann zu hören.

Bevor noch wieder die Karussells bimmelten, die Kapellen in den Festzelten zu spielen begannen und die vergnügungshungrigen Großstädter sich in den Budenstraßen drängten und schoben, gönnte sich die große Familie des fahrenden Volks eine Stunde der Sammlung und Andacht in einer Umgebung, in der es sonst nach röschen Schweinshaxen duftet und lachende und trinkende Menschen beieinandersitzen.

Nur selten haben Schausteller und Zirkusleute Gelegenheit, einen Gottesdienst zu besuchen, oft nur zwei- oder dreimal im Jahr, deshalb kommt es ihnen wenig auf den äußeren Rahmen an. Wo sie zusammentreffen und der Pfarrer ihnen die Bibel auslegt, dort ist ihre Kirche.

Taufe und Hochzeit muß nachgeholt werden, wenn sich die Möglichkeit ergibt. So nahm Pfarrer Stegmann gestern ein kleines Mädchen und einen Buben in die Gemeinschaft der evangelischen Kirche auf, die längst aus dem Steckkissen herausgewachsen waren aber deshalb nicht weniger erschrocken bei der Berührung mit dem Taufwasser krähten.

Eine mobile Gemeinde von über 6.000 Christen betreut der Leiter der evangelischen Zirkus- und Schaustellerseelsorge im Bundesgebiet. Der Erfolg seiner Tätigkeit liegt im persönlichen Gespräch, denn wie ein Lauffeuer spricht es sich auf den Plätzen der neuen Groß-Zirkusse, bei Volksfest und Kirmes her-um, wenn der "Herr Pfarrer" angekommen ist. Jedesmal bemüht er sich, alle Familien zu besuchen.

In den Wagen und mit ihren Bewohnern hat er schon manche Überraschung erlebt. Wenn er es am wenigsten erwartete, fand er zerlesene Gesangbücher und Bibeln. Seine Schäflein sind meist sehr bewußte Christen, bei denen man staunt, wie weit sie in manchen Glaubensfragen einer Ortsgemeinde voraus sind.

Fühlten sich diese Menschen früher oft von der Kirche im Stich gelassen, so hat sich jetzt zu „ihrem Seelsorger" ein neues Vertrauensverhältnis gebildet. „Nur ganz selten ist einmal das Familienleben der fahrenden Leute nicht in Ordnung, obwohl 80 v. H. in Mischehen leben. Zwischen Eltern und Kindern gibt es kaum Generationsprobleme." erzählt der frühere Stadtmissionar von München.

Er versteht die Sorgen seiner Gemeinde. So war es kein Wunder, daß er ihnen zum Abschluß seiner Predigt für die Volksfesttage in Nürnberg schönes Wetter wünschte und die Nürnberger daran erinnerte, daß nur noch dem Zirkus und den Festplätzen die Romantik und harmlose Fröhlichkeit erhalten geblieben sind.

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