Mama gibt Zensuren

11.9.2004, 00:00 Uhr
Mama gibt Zensuren

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Im Laufe des Nachmittags verabschieden sich Christina und ihr dreijähriger Bruder Joel mehrmals. Sie wollen die Nachbarn besuchen oder spielen gehen. Nächste Woche ist auch wieder Kinderturnen beim TSV Ochenbruck. Darauf freut sich das Mädchen besonders. In der Familie Größerlümern registriert der Außenstehende solche Aktivitäten mit gesteigerter Aufmerksamkeit, denn Kritiker des Homeschooling werfen Leuten wie Christinas Eltern vor, sie würden ihre Kinder unter einer Käseglocke aufwachsen lassen, weltfremd und abgeschottet vom Alltag. Nach einem Aufenthalt bei den Größerlümerns steht fest: Es gibt zweifellos wesentlich auffälligere Grundschüler als Christina.

„Die Intoleranz, die uns manchmal begegnet, ist erschreckend“, sagt Jörg Großelümern. „Leute, die sonst betonen, dass sie leben wollen, wie es ihnen gefällt, und sich das auch von niemandem nehmen lassen, gestehen uns das keineswegs zu. Als würden wir unsere Kinder irgendwie quälen. Manche hoffen unverblümt, dass der Staat ganz mit deutscher Gründlichkeit so richtig hart durchgreift.“

Schon zu der Zeit als Jörg Großelümern noch keine Kinder hatte, stellte er sich vor, dass er und seine Frau den Nachwuchs zu Hause unterrichten würden. In seinem christlichen Glauben wurzelt der Wunsch, in der eigenen Familie einen engen Zusammenhalt zu pflegen. „Harmonie und Ruhe sind uns wichtig“, sagt der 41-jährige Computerfachmann, „wir wollen den Kindern unsere Werte vermitteln.“

Das erfordert vor allem von Esther Großelümern viel Engagement. Etwa vier Stunden täglich gibt die gelernte Kinderpflegerin Christina Unterricht. Das notwendige Schulmaterial beschafft sich die 35-Jährige unter anderem von der staatlich zugelassenen Deutschen Fernschule (df).

Es gibt exakte Empfehlungen für das Lernpensum, Wochen- und Monatspläne, Übungshefte und Tests. Esther Großelümern zeigt die „Pusteblume“, ein Deutschbuch: „Sie sehen, die Bücher sind nicht voll mit frommem Zeug.“ Das will sie klarstellen, denn nicht selten wird Heimschuleltern ein übertriebener religiöser Missions-Eifer unterstellt, „dabei machen wir genau das, was an staatlichen Schulen auch durchgenommen wird“. Die Privatlehrerin, die sich regelmäßig fortbildet, kann sich aber anders als in einer Klasse mit 30 Kindern ganz auf Christinas Tempo einlassen: „Es ist schön, die Fortschritte zu sehen, das geht ganz ohne Noten und Zwang.“ Von staatlicher Seite wird das Homeschooling-Modell mit großer Skepsis beobachtet. Ein Jahr war Christina ganz offiziell zurückgestellt, aber seit diesem Schuljahr hätte sie in die Schwarzenbrucker Volksschule gehen müssen. Die Eltern haben sie aber dort nie angemeldet.

Die Behörden zeigten anfänglich sogar Verständnis. „Falls Sie ihre Tochter künftig von der staatlich anerkannten Deutschen Fernschule beschulen lassen möchten, ist zunächst eine schriftliche Bestätigung des zuständigen Schulamtes über eine ,Schulbefreiung‘ erforderlich“, schrieb der Laufer Landrat Helmut Reich. Diese Befreiung wurde nie erteilt. Inzwischen liegt die Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von tausend Euro auf dem Tisch. Das Verfahren ist noch nicht entschieden.

Das bayerische Kultusministerium weist auf eine Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes aus dem Jahr 2002 hin. Dieser hatte in einem hartnäckigen Homeschooling-Konfliktfall geurteilt, dass das Erziehungsrecht der Eltern durch die allgemeine Schulpflicht „in zulässiger Weise beschränkt“ wird. Staatliche Schulen sollen, so die oberste Instanz, nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch „Herz und Charakter bilden“ und sie zu „tüchtigen Mitgliedern der Gemeinschaft“ erziehen. Ein Ziel, dem Heimschul-Kinder offensichtlich besonders nahe kommen, wie Erfahrungen in Österreich, Frankreich oder den USA zeigen. Dort hat Homeschooling eine lange Tradition.

Das amerikanische National Home Education Research Institute (NHERI) hat im vergangenen Jahr 7300 zu Hause unterrichtete Erwachsene befragt. 5000 von ihnen genossen als Kinder mindestens sieben Jahre diese Form der Schule. Das Ergebnis (www.nheri.org) ist eindeutig. 74 Prozent der Homeschooling-Absolventen besuchten weiterführende Schulen, 46 Prozent sind es im US-Durchschnitt. Sie sind häufiger ehrenamtlich tätig, politisch wesentlich aktiver, sie gehen zum Beispiel öfter demonstrieren.

Positive Erfahrung hat auch Bayerns Nachbarland Baden-Württemberg gemacht. Rund 50 Kinder werden dort nach Angaben des Stuttgarter Kultusministeriums zu Hause unterrichtet. „Das verläuft in aller Regel sehr erfolgreich“, sagt Sprecher Elmar König, „die betroffenen Familien kümmern sich sehr um ihre Kinder. Da tun sich keine erzieherischen Abgründe auf.“ Die Kinder erreichen allesamt öffentliche Abschlüsse. „Auch wir pochen auf die Schulpflicht“, versichert er, „aber wir handhaben das flexibel“. Die Schulaufsicht achte darauf, dass der Unterricht daheim regelmäßig stattfindet, die Eltern arbeiten offen mit uns zusammen. „Polizei schicken wir keine, um die Kinder in die Schule abzuholen, wir spielen das nicht hoch.“

Sollte der bayerische Staat mit aller Härte bis hin zum Entzug des Sorgerechts auf die Schwarzenbrucker Schulverweigerer reagieren, hat Jörg Großelümern deshalb schon einen Plan gefasst. Dann zieht die Familie ins baden-württembergische Crailsheim. Dort wäre sie vor der „Verfolgung“ sicher. Er könnte seiner Arbeit in Nürnberg nachgehen, auch wenn der Aufwand für ihn und die Seinen enorm wäre. „Es täte uns leid, hier weg zu müssen, uns gefällt es in Schwarzenbruck sehr gut“.

Sie gehen häufiger zur Wahl, blicken im politischen Leben besser durch und lesen mehr: Das besagt die US-Studie zu Homeschooling-Absolventen. Sie ist im Internet unter www.nheri.org zugänglich.

Adressen in Deutschland: Schulunterricht zu Hause, Buchwaldstraße 16, 63303 Dreieich, Telefon (0 18 05) 72 48 94, E-Mail: info@schuzh.de, Internet: www.schuzh.de

Deutsche Fernschule, Herbert-Flender-Straße 6, 35578 Wetzlar, Telefon (0 64 41) 92 18 92, Internet: www.deutsche-fernschule.de, E-Mail:df@deutsche-fernschule.de