20. Juli 1968: Reise in ein neues Leben

20.7.2018, 07:00 Uhr
20. Juli 1968: Reise in ein neues Leben

© Bauer

Das Amt hat in seinem siebeneinhalbjährigen Bestehen 40 784 Männern, Frauen und Kindern Starthilfe für ein "neues Leben" in der Bundesrepublik gegeben. Über 100.000 Deutsche aus der Tschechoslowakei und Rumänien werden noch erwartet.

Ein Erweiterungsbau für 340.000 DM, der dieser Tage eingeweiht wurde, soll künftig die Arbeit erleichtern. In ihm sind freundliche Aufenthaltsräume, eine Arztpraxis und zwei Büros untergebracht; eine Röntgenstation (Kosten: 70.000 DM) soll das "Verteilungsverfahren" vereinfachen. Bisher mußte jeder Aussiedler zu einer Röntgenstation der Stadt gefahren werden.

Die neuen Bundesbürger, die Nürnberg passieren, stammen meistens aus der Tschechoslowakei und aus südosteuropäischen Ländern. Das Durchgangslager Friedland ist dagegen vornehmlich für die deutschen Übersiedler und Rückkehrer aus der Sowjetunion, Polen und den ehemaligen deutschen Ostgebieten zuständig.

Wenn die Aussiedler am Abend um 18.53 und 19.02 Uhr – täglich etwa 50 Personen – mit dem Zug auf dem Hauptbahnhof eintreffen, glaubt der Passant, die Zeit sei stehengeblieben. Er muß schon in seinen Kindheitserinnerungen kramen: damals – im Krieg und kurz danach – trugen die Leute solche Kleidung.

Vielleicht ist es das ungewohnte Aussehen, das vor allem jüngere Leute dazu verleitet, Butzke und seine 14 Mitarbeiter immer wieder anzupöbeln. "Für diese Zigeuner tut ihr alles, für uns nichts", muß er sich immer wieder anhören. Doch Alfred Butzke ist nachsichtig: "Die Bevölkerung ist zu wenig aufgeklärt. Wer zu uns kommt, ist Deutscher!" Er kann diese Geduld aber nicht mehr aufbringen, wenn die Sache kriminell wird: dieser Tage beispielsweise warfen unbekannte Täter Steine durch die Fensterscheiben in den Arztraum. Wäre das Röntgengerät schon geliefert gewesen, hätte es möglicherweise hohen Schaden gegeben. Ein enges Eisengitter soll solche Zwischenfälle künftig verhindern.

Zwei Beispiele für die Sorgen und Probleme, die Tag für Tag mit den Menschen im Haus Kollwitzstraße 1 einziehen: Freudestrahlend nimmt ein Vater, der bei der Bundesbahn Aachen beschäftigt ist, seinen Sohn in die Arme. Als er in den Krieg zog, war der Bub ganze drei Jahre alt gewesen. 1947 wurde er aus amerikanischer Gefangenschaft in die Westzone entlassen, seine Frau und seine Kinder blieben in der CSSR, denn die Grenzen waren versperrt. Heute überragt der Sohn den Vater um Haupteslänge. Beide können überglücklich sein, aber sie können sich noch nicht verständigen: der Senior spricht nur deutsch, der Junior nur tschechisch.

"Ich war Landwirt und Imker in Jugoslawien, hatte Pferde und Kühe. Jetzt ist die Frau in Kanada, da will ich endlich Deutscher sein", erklärt mit der den Volksdeutschen eigenen harten Aussprache ein Siebzigjähriger dem Aufnahmebeamten. Ob er in Jugoslawien Rentenmarken geklebt habe? "Nein!" Ob er in Deutschland wieder arbeiten wolle? "Nein, die habe ich vergessen; Aber man muß mir Rente geben. Ich brauche schließlich Geld zum Leben."

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