26. Juli 1968: Kein Mitleid mit Alkohol-Leichen

26.7.2018, 07:00 Uhr
26. Juli 1968: Kein Mitleid mit Alkohol-Leichen

© Kammler

In allen Fällen flattert zwar den Alkohol-Leichen eine kräftige Fahne voran, aber immer wieder fragen sich die Beamten besorgt: „Ist die ganze Geschichte nach zehn Stunden Schlummer ausgestanden oder stellt sich das dicke Ende erst noch im Krankenhaus ein?“ Die Polizisten sind überfordert, denn sie können den Mediziner nicht ersetzen.

Polizeipräsident Dr. Horst Herold sieht das Problem nüchtern. „Wir brauchen unbedingt einen Polizeiarzt“, stellt er sachkundig fest. Andererseits aber weiß er genau, daß er nicht über die Kasse des Stadtkämmerers springen kann. Wir haben einmal die Probe aufs Exempel gemacht. Angereichert mit dem Inhalt aus einer Pulle Schnaps und eineinhalb Liter Bier hat sich ein Kollege aus der Redaktion in der Anlage am Sterntor am hellen Nachmittag zur Ruhe begeben.

Bank erster Ankerplatz

Eine Bank war sein erster Ankerplatz. Es kam, wie es meist nach solch feuchtfröhlichen Zechereien kommt. Der schwere Kopf sinkt vornüber, die alkoholschweren Glieder versagen ihren Dienst und – plumps – liegt die Versuchsperson der Länge nach auf dem nackten Asphalt. In sicherem Abstand harren Fotograf und Reporter der Dinge, die sich in den nächsten Minuten abspielen werden.

26. Juli 1968: Kein Mitleid mit Alkohol-Leichen

© Kammler

15.15 Uhr: eine Dame mit ihrem Töchterchen und einem großen Paket kommt und macht einen weiten Bogen um die Gestalt auf dem Boden. Verstohlen wirft sie einen verächtlichen Blick auf die „Leiche“ und marschiert schnurstracks weiter.

15.17 Uhr: ein etwa neunjähriges Mädchen rollt auf einem Handwagen den abschüssigen Weg hinunter, bremst, sieht einige Augenblicke den Mann an und fährt weiter.

15.20 Uhr: es naht eine Dame in Begleitung ihrer Tochter, die eben dabei ist, den Kinderschuhen zu entwachsen. Beide sehen den Betrunkenen, stutzen und machen auf dem Absatz kehrt. „So was am hellichten Tag!“, ist ihr einziger Kommentar.

15.27 Uhr: wieder taucht eine Frau auf. Neben ihr läuft frei ihr vierbeiniger Begleiter. Sie entdeckt schon 20 Meter vorher den Umgefallenen, pfeift ihren Hund heran, nimmt ihn an die Leine und passiert den Ort, ohne sich noch einmal umzusehen.

15.28 Uhr: das Mädchen mit dem Handwagen kommt wieder zurück.

15.29 Uhr: ein junger Mann – dem Aussehen nach ein Gastarbeiter – verlangsamt seinen Schritt. Mitleidig lächelnd sieht er den Betrunkenen an und verhält. Unschlüssig steht er da und überlegt, ob er etwas unternehmen soll. Seine Überlegungen werden von einem weiteren Herrn entscheidend beeinflußt. Der nachfolgende Passant geht ungerührt vorbei. Da wendet sich auch der junge Mann in Richtung Sterntor ab.

15.30 Uhr: das Mädchen mit dem Handwagen wird immer neugieriger. Sie macht Besatzungen eines städtischen Lastwagens, die von Richtung Königstor angerollt kommt, auf den Schläfer aufmerksam. Doch der Fahrer nimmt kaum den Fuß vom Gaspedal. „Der soll dahamm sein Kanona-Rausch ausschloofn“, brummt er wirsch und fährt davon.

15.32 Uhr: auf dem Gehsteig oben am Ring taucht der 52jährige Angestellte Georg Braun auf. Er überlegt nicht lange, sondern springt hinunter in den Graben. Besorgt beugt er sich über die „Versuchsperson“ und fragt: „Wo fehlt‘s denn, Meister? Sie müssen sofort ins Krankenhaus“. Noch während er den Mann auf die Bank hebt, erscheint auch schon die Funkstreife, die ängstliche Beamte in der nahen Postdienststelle über Notruf alarmiert hatten.

Die beiden Hauptwachtmeister Hans Langermann (25) und Klaus Eckart (28) springen aus dem Wagen. „Wo tut‘s weh?“ fragen sie und schreiten zur Tat. Zusammen mit Georg Braun transportieren sie den Mann behutsam zum Polizeiauto und verfrachten ihn auf dem Rücksitz. Durch das freimütige Geständnis des aufgeklaubten Zechers entfällt freilich die geplante Fahrt zum Krankenhaus. Ein letzter Blick auf die Uhr: nach genau 17 Minuten ist das „Promille-Hindernis“ aus dem Wege geräumt, das von dem Mädchen mit dem Handwagen schadenfroh angesprochen worden war. „Setz di halt auf die Bank. Des gschieht Dir gscheit recht, wenn man sich so vollaufen läßt“, hatte sie dem um Hilfe Röchelnden erklärt.

Nürnbergs Polizeipräsident macht sich die Beurteilung einer solch verzwickten Lage nicht so leicht. „Tagtäglich stehen meine Beamten vor dem Problem, eine ärztliche Diagnose stellen zu sollen. Damit sind sie jedoch überfordert“, meint der Polizeichef. Zwischenfälle wie in Hamburg, Köln und Karlsruhe – dort starben Menschen, die in die Zelle zur Ausnüchterung gebracht worden waren, weil niemand ihre Sturzverletzungen erkannt hatte – sind glücklicherweise Nürnberg bisher erspart geblieben. Die Beamten schalten in allen zweifelhaften Fällen freie Ärzte, das Krankenhaus und das Gesundheitsamt ein.

Dennoch ist es nach Ansicht von Dr. Horst Herold dringend erforderlich, der Polizei eigene Ärzte zur Seite zu geben. Sie wären am ehesten in der Lage, den Zustand eines Betrunkenen zu beurteilen und mögliche Komplikationen schnell zu erkennen. Die Kosten für den Mediziner im Polizeigewand sind jedoch so hoch, daß sie im Augenblick von der Stadt nicht verkraftet werden können, zumal der Schichtdienst rund um die Uhr mindestens vier Ärzte erfordert. Die Gehälter für Arzthelferinnen und Schreibkräfte müßten noch dazu gerechnet werden.

Oberbürgermeister Dr. Andreas Urschlechter hat zwar den Plänen des Polizeipräsidenten bereits grundsätzlich zugestimmt, aber aus Geldknappheit bleibt es einstweilen dabei: Nürnbergs Betrunkene leben gefährlich.

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