29. August 1967: Wahllos "in die Pilze"

29.8.2017, 07:00 Uhr
29. August 1967: Wahllos

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"Die Pilzsammler nehmen einfach alles mit", klagt Obersekretär Emil Etschel vom Chemischen Untersuchungsamt. "Dabei sind klitzekleine Wiesenchampignons kaum von den giftigen Knollenblätterpilzen zu unterscheiden, so lang sie nur einen halben Finger hoch aus dem Boden schauen." Erst wenn man beide auseinanderbricht, kann man den Unterschied sehen. Kann – wenn man gute Augen hat.

Die alten Leute, die das Hauptkontingent der Schwammerlsucher stellen, erkennen freilich die feinen Unterscheidungsmerkmale nicht mehr. Sie sind froh, wenn sie bei der mühseligen Wanderung durch die pilzarmen Wälder rings um Nürnberg wenigstens eine Handvoll mit heimbringen. Dabei genügt ein einziger kleiner Knollenblätterpilz, der in einem Topf voll Wiesenchampignons giftet, um eine ganze Mahlzeit zu verderben.

Das heiße Wetter hat bislang nur eine geringe Pilzernte gebracht. Nach einem einzigen Regentag sprießen sie freilich, die giftigen und die eßbaren – aber wer kennt sie alle? "Über 3.000 gibt‘s auf der ganzen Welt", verrät Kenner Etschel, fügt aber gleich hinzu: "Kein Mensch kennt sie alle!"

Die Pilzsucher sollten deshalb recht vorsichtig sein. Die elf privaten "Pilzberater" in Nürnberg, die Naturhistorische Gesellschaft, das Gartenbauamt und das Chemische Untersuchungsamt, die alle miteinander Auskünfte erteilen, können sich auch über Besuchermangel nicht beklagen. Die Auskunftheischenden lassen sich genau erklären, was sie sich für die nächste Wanderung in die Wälder merken müssen, erhalten ein Heftchen ("heuer wird beim Staatsministerium für Landwirtschaft und Forsten gespart, da haben wir keine Pilzbroschüren bekommen!" erklärt Etschel) und werfen die giftigen Gesellen eilends in die dafür vorgesehene Wanne auf dem Tisch im Zimmer 103 des chemischen Untersuchungsamtes.

In ein großes blaues Buch trägt Obersekretär Emil Etschel alle Besucher mit Namen, Adresse und vorgelegter Pilzsorte ein. So hat er jederzeit eine Kontrolle. Nicht erfaßt werden Schnellauskünfte folgender Art: "Mein Wagen steht vor der Tür, ein Schupo streicht dauernd drumherum, weil ich falsch parke – ist das ein Steinpilz oder nicht?"

Das Buch gibt auch Auskunft über gute und schlechte Jahre: bis zum 28. August dieses Jahres sind Etschel und seine beiden Kollegen im Untersuchungsamt (die alle drei die Beratungen nebenbei und ehrenamtlich ausüben) hundert Mal um Rat gefragt worden – im vergangen Jahr waren bis zum gleichen Zeitpunkt schon 400 Sammler erschienen. Dabei fing die Saison schon Ende April an.

Eines wundert Emil Etschel genauso wie seine beiden Kollegen: sie haben heuer noch keinen einzigen giftigen Knollenblätterpilz, der an mittlerweile elf Todesfällen schuld ist, zu Gesicht bekommen – weder im Wald noch auf ihrem Untersuchungstisch.

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