Was Betrachtern zum „Ehekarussell“ einfällt

22.8.2010, 12:03 Uhr
Was Betrachtern zum „Ehekarussell“ einfällt

© Distler

Es ist „die Wucht, die Größe“, die Silke Rauscher (39) so beeindruckt. Die Ansbacherin ist mit Mann und drei Kindern zum Einkaufen nach Nürnberg gekommen, Sohn Luca lässt sich vor dem monumentalen Werk vom Papa fotografieren. Was lösen diese Szenen einer Ehe bei Verheirateten aus? „Ähnlichkeiten, nein, da kann ich überhaupt keine entdecken“, sagt Silke Rauscher. Zeynab Aliyeva würde die gar nicht abstreiten, zumindest in Teilen. „Das Paar ist beeindruckend“, sagt die 30-Jährige und blickt auf die hingestreckten Liebenden. „Großartig!“ Die Kanadierin, die für die Regierung arbeitet und derzeit nach Afghanistan entsandt ist, hat sich auf halbem Weg mit ihrem Mann und Tochter Elizabeth getroffen, und nun erkunden sie Nürnberg. „So etwas kann man in Kunstgalerien nicht sehen“, sagt Ehemann Beka und wünscht, er wüsste mehr über dieses Werk.

Als das Wasser am 1.Juli 1984 aufgedreht wurde, hatte der Hans-Sachs-Brunnen schon einiges hinter sich. Ursprünglich sollte ja nur der U-Bahnschacht überdeckt werden, doch die Arbeit des Braunschweiger Professors Jürgen Weber spaltete Politik und Bevölkerung. Sogar ein Baustopp wurde verhängt.

Vernichtende Kritik

Was Betrachtern zum „Ehekarussell“ einfällt

Zu teuer fanden die einen das Kunstwerk, das über zwei Millionen D-Mark kostete. Andere hielten es für zu groß, zu ordinär. Der NN-Kritiker urteilte vernichtend. „Ein solches Ausmaß an Disproportion von materieller und handwerklicher Investition auf der einen und geistigem Gewicht des Bildgegenstandes auf der anderen Seite dürfte es in der Kunst diese Jahrzehnts nicht noch einmal geben, zumindest nicht in Deutschland.“

Und was hielten die Nürnberger davon? „Schee is des net. Is halt ä Kunstwerk“, hatte damals eine Passantin gemeint, und ein anderer hat gesagt: „Ich glaube, der schaut nicht mehr lange so aus, außer er wird rund um die Uhr bewacht.“

Was Betrachtern zum „Ehekarussell“ einfällt

26 Jahre später sprudelt das Wasser noch immer. Und Frank Schulz spürt noch dieselbe Begeisterung wie beim Aufbau, als ihm Kunstprofessor Weber im nahegelegenen Café das Werk erklärte. „Wer das Herz liest, versteht den Brunnen“, sagt der 52-Jährige, der vor gerade einer Woche seine Frau Angela geheiratet hat. Ihre Lieblingsszene sind die Skelette. Aber die würgen sich doch? Falsch, korrigiert Schulz: Dargestellt sei die Liebe bis zum Tod. „Schauen Sie nur hin: Die beiden lachen doch. Das ist Ekstase des Liebesaktes!“

Ziemlich „morbide, aber auch lustig“, findet dagegen Saskia Mattern, die ihre Mittagspause am Brunnen verbringt. Wie Lisa Einzmann auch, studiert sie Kunstgeschichte, die jungen Frauen absolvieren gerade ein Praktikum im Germanischen Nationalmuseum. „Alles wirkt so übertrieben, die Bewegungen und Gestik und Mimik“, sagt Einzmann. Aber die Oberflächen seien wunderbar gearbeitet, Details — wie die wasserspeiende Muschel — einfallsreich.

Was Betrachtern zum „Ehekarussell“ einfällt

Der Ideen- und Namensgeber des Brunnens steht hoch droben. Der Nürnberger Dichter Hans Sachs, der von 1494 bis 1576 lebte und „Das bittersüße ehlich Leben“ beschrieb. Himmlische Liebesgefühle kontrastiert er souverän mit der täglichen Hölle: „Sie ist meines Herzens Aufenthalt und machet mich doch grau und alt.“

Ob sich Minavera Istrefi über Risiken und Nebenwirkungen der Ehe informiert hat? Die 24-Jährige, die aus dem Kosovo stammt und in Nürnberg lebt, hat gerade Söhnchen Erdi vor dem Brunnen fotografiert. „Das ist schön, das freut mich — das Bild werde ich immer anschauen“, sagt sie. Und für die angehende Erzieherin Natalia und den Software-Experten Sergej gehört das Ehekarussell zu jeder Stadtführung dazu, die sie Besuchern aus ihrem Heimatland Ukraine angedeihen lassen. „Das ist nicht besonders hübsch, aber lustig“, sagt die 26-jährige Natalia. Und interessant. Als die beiden neu in Nürnberg waren, seien sie deshalb häufig zum Brunnen gekommen. Inzwischen sei der „wie ein Wahrzeichen der Stadt“.