Ein Ort des Glücks

23.12.2015, 19:47 Uhr
Ein Ort des Glücks

© F.: Kasperowitsch

  Die Geburt des kleinen Abdul Karim vor einigen Wochen wird an allen Ecken und Enden im Ort voller Freude, na ja, nicht gerade verkündet, aber stiller Stolz schwingt schon spürbar mit, wenn die Menschen davon erzählen. Der Junge ist schließlich hier der allererste Nachwuchs-Waldler mit syrischen Wurzeln. Das lässt im Ort hoffen. Im ganzen vergangenen Jahr standen nämlich laut Gemeindestatistik 24 Sterbefällen ganze sieben Geburten gegenüber. Das sind nicht gerade Zahlen, die eine blühende Zukunft verheißen.

Der Zwerg-Grundschule drohte mangels Nachwuchs bereits die Schließung. Jeweils zwei der insgesamt nur vier Klassen waren bereits zusammengelegt worden. Seit diesem Schuljahr gibt es wieder vier eigenständige Klassen und entsprechend mehr Lehrer. Von genau 56 Schülern sind 12 Flüchtlingskinder, also mehr als 20 Prozent. Wo angesichts solcher Zahlen alarmierend der akute Schulnotstand ausgerufen würde, schwärmt Stephanie Simon von traumhaften Lernbedingungen mit durchschnittlich 14 Kindern pro Klasse. Sie ist seit vielen Jahren Lehrerin in Haidmühle und kennt die schlechteren Zeiten sehr gut.

Traumhafte Lernbedingungen

Die begannen sich vor etwa eineinhalb Jahren zu bessern, als die ersten Flüchtlinge ankamen. „Anfangs gab es Ängste bei den einheimischen Eltern, ihre Kinder könnten zu kurz kommen“, erzählt die Pädagogin, „das hat sich aber schnell gelegt. Schulisch gesehen haben wir jetzt den puren Luxus. Das sieht jeder.“

Ein Auftritt ihrer ausländischen Schüler beim bereits 3. Multikulturellen Treffen (MKT) im Ort ist für Stephanie Simon schon aus diesem Grund eine gern erfüllte Pflicht. Die syrischen Kinder singen vorne in der nüchternen Mehrzweckhalle vor stattlichem Publikum „Ich geh mit meiner Laterne“, und sie tragen ein einstudiertes Nikolaus-Lied vor. Geschmückt wird der ansonsten nackte Saal mit dem grauen Turnhallenboden und den hochgeklappten Basketballkörben nur von der wärmenden Atmosphäre, mit der sich alteingesessene Dorfbewohner und ihre neuen Nachbarn aus dem muslimischen Nahen Osten begegnen.

Die Organisatoren im Ort nennen die Veranstaltung tatsächlich ganz offen und in der ganzen Umgebung auf Plakaten werbend „Multikulturelles Treffen“, wo doch Multikulti in manchen politischen Kreisen längst als gescheitert gilt. Der Begriff hat einen abschätzigen Beiklang bekommen. Heinz Scheibenzuber stimmt da nicht im Geringsten mit ein. Der Schreinermeister ist CSU-Kommunalpolitiker und 3. Bürgermeister von Haidmühle.

Auch seine Tochter besucht die Luxus-Schule im Dorf, und er lässt es sich nicht nehmen, beim 3. MKT ein rührendes Grußwort zu sprechen. Es wird ins Englische und Arabische übersetzt. Auch er freut sich über die Geburt von Abdul Karim: „Das ist doch ein schönes Zeichen dafür, wie unwichtig es ist, mit welcher Nationalität wir geboren werden.“ Ja, und wenn sich die Kinder freundlich aufgenommen wissen, würden sie ganz gewiss später nicht so leicht in die Fänge von Hasspredigern geraten. Wenn man sich in der kleinen Teeküche mit ihm unterhält, spricht Scheibenzuber stets mit größter Selbstverständlichkeit von „unseren“ Flüchtlingen.

Dass seine Parteioberen häufig von einer Begrenzung der Flüchtlingszahlen oder einer belastenden Überfremdung reden, nimmt er stumm zur Kenntnis. Er begegnet solchen Bedenken mit dem trockenen Kommentar : „Ich sehe das anders.“

Für tatkräftige Männer wie Heinz Scheibenzuber zählt eher, dass mehrere syrische Männer fachkundig mit anpackten, als das Dach des Schulhauses zu dämmen war. Er staunt über die freundliche Offenheit, mit der die muslimischen Familien ganz unbefangen bei der Nikolausfeier in der katholischen Kirche mitwirkten, er lobt das syrische Essen beim Schulfest, den arabischen Kochkurs. Eine willkommene Bereicherung sieht er in all dem für seinen Ort im hintersten Winkel Bayerns.

Dem Kommunalpolitiker ist durchaus bewusst, dass Haidmühle mit seinen Flüchtlingen schon auch Glück gehabt hat. Es sind hier vor allem Familien als sogenannte Kontingentflüchtlinge angekommen. Gut 3000 nimmt der Freistaat auf. Um die 2500 sind bereits hier. Anders als Asylbewerber bekommt diese Gruppe sofort eine befristete Aufenthaltserlaubnis, sie darf umgehend Arbeit aufnehmen, sofern sie welche findet, und bekommt von Anfang an die vollen Sozialleistungen, etwa Hartz IV.

Das erleichtert vieles für die Betroffenen — einerseits. Andererseits könnten solche Vergünstigungen die Missgunst gerade in einem so kleinen Ort erst richtig anstacheln. Es muss also noch etwas hinzukommen, dass in Haidmühle nicht ein Ton davon zu hören ist. Und das war zunächst ein Einfall von Franz Scheibenzuber, als im Mai vergangenen Jahres die ersten Syrer, eine neunköpfige Familie, vor dem Rathaus standen, mit ihrer kümmerlichen Habe und ohne ein Wort Deutsch.

Stärkung der Dorfgemeinschaft

Der 3. Bürgermeister rief Franz Kies an, der in der Haidmühler Abgeschiedenheit ein etwas abseits gelegenes früheres Bauern-Anwesen bewohnt. Er weiß, dass der Ingenieur und Dozent beruflich in der Welt weit herumkommt und ein paar Brocken Arabisch beherrscht. Kies ist dann innerhalb weniger Monate so etwas wie das kräftige Herzstück der Haidmühler Flüchtlingsarbeit geworden, welches das ehrenamtliche Engagement bis in die feinsten Verästelungen der Kommune zum Leben erweckt hat.

Ein fester Helferkreis von mehr als 20 Personen organisiert Sprachkurse, fährt die Flüchtlinge zu Behörden, sorgt für biometrische Passfotos, verteilt Kleidung, die der Frauenbund im Ort gesammelt hat, begleitet sie beim Einkaufen, begibt sich auf dem Flohmarkt im nahen Waldkirchen auf die Suche nach Brauchbarem. „Ich bin da so reingewachsen“, meint Koordinator Kies, „mittlerweile ist das für mich locker ein Halbtagsjob.“ Er hält diesen Einsatz für notwendig. Es kann zu den Vorteilen der oft geschmähten ländlichen Strukturen der Haidmühler Art zählen, dass man Bestimmungen lockerer handhabt als in der Großstadt. Der Bankdirektor im Ort etwa, so erzählt man sich, hat es Flüchtlingen unter der Hand ermöglicht, ein Konto zu eröffnen, obwohl sie noch nicht die dafür vorgeschriebenen Papiere vorlegen konnten. Als der Bankchef für seine gewollte Nachlässigkeit von oben einen Rüffel erhielt, sprang einfach die Gemeindeverwaltung als Kontoinhaberin ein, damit die Syrer weiter zügig an ihr Geld kommen konnten.

Das alles hat die Dorfgemeinschaft selbst gestärkt. Das hört man nicht nur von Franz Kies, der zuvor nicht eben zum engsten Kreis der Honoratioren gehörte. Aber jetzt gibt es jede Menge zu besprechen. Da lernt man sich zwangsläufig besser kennen. Davon kann auch Inge Krüger ein schönes Lied singen.

Die Sozialpädagogin lebt seit 40 Jahren in Haidmühle. „Über manche Leute im Ort habe ich erst durch diese Flüchtlingsarbeit etwas mehr erfahren,“ versichert sie. Nachbarn schauen bei ihr vorbei und bringen zum Beispiel Kindersitze für Flüchtlingskinder.

Inge Krüger vermietet zehn Ferienwohnungen. Es hat nicht den Anschein, als wären diese immer voll belegt mit Bayerwald-Touristen. Jetzt hat sie etwa die Hälfte davon an Flüchtlingsfamilien vermietet. Das ist zunächst eine sichere Einnahmequelle, das ist was wert, aber die häufigen Erledigungsfahrten mit Flüchtlingsfrauen und deren Kindern oder vieles von dem fälligen Papierkram müsste sie deshalb noch lange nicht erledigen. Sie tut das mit viel Verständnis und in großem Umfang. „Füllen Sie mal einen Hartz-IV-Antrag aus! Da braucht unsereins ja schon zwei Stunden.“

Gegenseitige Hilfe hat hier lange Tradition

Um etwas tiefer zu ergründen, warum das alles in Haidmühle so vorbildlich und zu beiderseitigem Nutzen funktioniert, muss man ein paar Worte mit Hubert Müller wechseln, einem bedächtigen Gastronom. Er bringt einer syrischen Analphabetin Lesen und Schreiben bei. Hat die vorbildhafte Haidmühler Hilfsbereitschaft und ungewöhnliche Freundlichkeit eines ganzen Ortes gegenüber den muslimischen Ankömmlingen vielleicht etwas mit der christlichen Nächstenliebe in dieser immer noch streng katholischen Gegend zu tun? Dann müssten an weitaus mehr Orten Haidmühler Verhältnisse herrschen.

Hubert Müller denkt etwas nach, ehe er sagt: „Bei uns galt schon immer: Wer nicht hilft, dem wird nicht geholfen.“ Das ist eine Grunderfahrung, die sich den Menschen in dieser grenznahen Abgeschiedenheit offenbar tief eingeprägt hat. In der Anonymität der Großstädte gehe so etwas schnell unter, sagt Müller, man braucht sich da nicht. Da könne man vom anderen locker meilenweit entfernt sein, auch wenn es der nächste Nachbar ist. Der Not des Nächsten begegne man da leicht mit gleichgültigem Schulterzucken. In Haidmühle geht das nicht. Als hier Flüchtlinge im Sommer zum Beispiel ohne Schuhe herumliefen, hat man schnellstens Spenden organisiert. Kies erstickte fast in Schuhpaaren, so viele wurden gesammelt.

Müller hat deshalb seinen ganz eigenen Integrationsplan: „Die Flüchtlinge sollen sich bei uns erst einmal ordentlich eingliedern. Mit dieser Grundlage können sie dann weiterziehen.“

Es gibt Syrer, die haben die waldreiche bayerische Grenzregion bereits Richtung Berlin wieder verlassen, weil sie in der Metropole Angehörige haben oder weil sie dort bessere Chancen für sich sehen. Man habe gehört, so wird in Haidmühle gemunkelt, dass sie diesen Schritt schon bereut haben. So gut wie hier haben es Flüchtlinge woanders eben nicht.

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