Ehrenbürgerwürde für Erlangerin Dinah Radtke
6.7.2016, 12:00 UhrUnd dann ist da die Treppe. Einladend. Und relativ breit. Die schmiedeeiserne Tür steht offen. Die Steinstufen führen hinauf ins erste Stockwerk des Loewenichschen Palais. Dort oben ist das Kunstmuseum. Unerreichbar für Dinah Radtke. Einen Aufzug gibt es hier nicht.
Über solche Erfahrungen redet die Frau im Rollstuhl nicht oft. Nicht über ihre eigene Gefühlswelt jedenfalls. Mit Ausnahmen. Als letztes Jahr im Kunstmuseum Bilder ihres Freundes Manfred Dollhopf ausgestellt waren, konnte sie ihre Enttäuschung darüber, dass sie die Ausstellung nicht sehen konnte, doch nicht verhehlen.
Noch nicht alle Ziele erreicht
Dabei weiß sie, dass sich in letzter Zeit viel tut in Erlangen. Die neu geschaffenen Diversity-Stellen in der Verwaltung, der Runde Tisch Inklusion, das Arbeitsprogramm, demzufolge alle Referate angehalten sind, die Behindertenrechtskonvention einzuhalten: Da gehe viel voran in Sachen Barrierefreiheit, lobt Dinah Radtke.
Die Frau, die sich zeitlebens für die Belange von Menschen mit Behinderungen eingesetzt hat, weiß natürlich auch, dass noch längst nicht alle Ziele erreicht sind — auch nicht in ihrer Heimatstadt. Dass noch mehr geschehen kann, bei städtischen, besonders aber bei privaten Gebäuden. Das neue Behindertengleichstellungsgesetz, das die Bundesregierung im Mai verabschiedete, offenbart in Dinah Radtkes Augen jedenfalls ein großes Manko. „Da ist wieder das Private nicht dabei“, sagt sie.
Das Leben behinderter Menschen im Alltag sei nachweislich sehr stark von der privaten Infrastruktur geprägt. Doch anders als in den USA, wo ein entsprechendes Gesetz — der Americans with Disabilities Act (ADA) — seit 1990 in allen Bereichen Maßnahmen vorschreibt, um die Barrierefreiheit von öffentlichen Einrichtungen zu verbessern ist, wird in Deutschland der private Sektor nicht in die Pflicht genommen.
Einkaufen im Supermarkt, Übernachten im Hotel, ins Kino gehen, Essen gehen im Restaurant — hier wird vieles schnell sehr kompliziert, wenn man beispielsweise im Rollstuhl daherkommt. Dinah Radtke hat einen langen Atem, wenn es darum geht, hinzuweisen auf das, was mit Behinderung nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen geht.
Die Stadt erobert
Und es gab Zeiten, als dies noch weitaus schwieriger war. Als Dinah Radtke 1974 als junge Frau nach Erlangen kam, um am Fremdspracheninstitut zu studieren und Übersetzerin zu werden, war die Stadt noch nicht bereit für sie.
Dinah Radtke hat sich die Stadt erobert. Man könnte auch sagen: Dinah Radtke hat sich das Leben erobert. Ausgangspunkt ist ihre Kindheit in Bayreuth. Als sie drei Jahre alt war, wurde festgestellt, dass sie eine spinale Muskelatrophie hat — früher Muskelschwund genannt — , eine Krankheit, die fortschreitet. Ab dem zwölften Lebensjahr konnte sie keine Schule mehr besuchen, mit 14 Jahren saß sie im Rollstuhl. Unterstützung für die Familie gab es damals kaum. Während ihre Schwestern zur Schule gingen und mit Freundinnen unterwegs waren, bildete sich Dinah Radtke über das Telekolleg weiter — und litt unter ihrer Isolation. „Für mich ist das bis heute der Antrieb, mich zu engagieren, damit andere nicht so ausgegrenzt werden“, sagt die 68-Jährige.
An Grenzen stieß sie auch noch als Studentin. Zunächst bei sich selbst — eine Folge ihres isolierten Aufwachsens, „ich war nicht selbstbewusst, hatte immer Angst“. Doch mehr noch in ihrer Umwelt. Von Barrierefreiheit konnte keine Rede sein. „Die Uni war nicht zugänglich“, erinnert sie sich. „Ins Institut musste ich reingetragen werden, und dafür musste ich jeden Tag zwei Männer oder vier Frauen abfangen.“
Fragen und bitten, auf andere zugehen: Das lernte die junge Frau auf diese Weise. Und sie traute sich nun, Kontakte zu suchen, heftete Zettel an Windschutzscheiben, „dann haben wir uns kennengelernt, die behinderten Studenten“. Daraus entstand 1977 die erste studentische Behinderteninitiative. Später stießen Nicht-Studenten dazu, und weil zunehmend mehr Beratungsarbeit anstand, mündete dies 1988 in die Gründung des Zentrums für Selbstbestimmtes Leben (ZSL), dessen erste Angestellte Dinah Radtke und Wolfgang Uhl waren.
Vielfaches Engagement
Fragen und bitten, aber auch Rechte einfordern: Das wird Dinah Radtke schließlich zum Anliegen. Sie ist Mitbegründerin der Dachorganisation „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland“ (ISL), war dort als Beiratsmitglied für Internationale Angelegenheiten zuständig. Dies führte sie zu der Weltorganisation „Disabled Peoples’ International“ — wo sie wiederholt in den Vorstand gewählt wurde und derzeit in Deutschland 2. Vorsitzende ist — und schließlich zur UNO. Hier wirkte sie von 2003 bis 2006 mit bei der Ausarbeitung der Behindertenrechtskonvention. „Ich hab’ ja nur den Artikel 6 mit durchgesetzt“, sagt sie bescheiden. Darin geht es um die Rechte behinderter Frauen.
Verschiedene städtische Gebäude werden derzeit auf ihre Barrierefreiheit hin „abgeklopft“. So läuft derzeit eine Potentialanalyse für das Theater, bei der auch das nicht barrierefreie obere Foyer in Augenschein genommen wird. Beim Erlanger Musikinstitut in der Rathsberger Straße wird überlegt, wie eine Rampenlösung aussehen könnte. Ziel soll sein, das Erdgeschoss barrierefrei zu machen. Im Museumswinkel soll der Lastenaufzug durch einen Personenaufzug ersetzt werden. Damit könnten die Ämter erreicht werden. Derzeit läuft die Vorplanung.
Nichts in Planung ist hingegen bei den Gebäuden der Volkshochschule. In der Friedrichstraße 19 gibt es keine Behindertentoiletten, in der Friedrichstraße 21 sind viele Räume mit Rollstühlen nicht zugänglich.
Barrierefrei sind Rathaus, Ladeshalle, Redoutensaal, Stadtbibliothek und E-Werk.
Und auch in Sachen öffentliche Toilette in der Innenstadt tut sich etwas. Lang eingesetzt haben sich Behinderte und auch Senioren für eine derartige Einrichtung. Diese baut die Stadt jetzt bis Ende des Jahres am Hugenottenplatz.
Bei Neu- und Umplanungen städtischer Gebäude wird immer auf Barrierefreiheit geachtet, heißt es aus dem Baureferat. Dies schreibt seit einigen Jahren die Bayerische Bauordnung vor.
Problematischer sieht es bei privaten Gebäuden aus. Selbst Arztpraxen sind häufig nicht barrierefrei. In den meisten Restaurants fehlen Behindertentoiletten. Viele Geschäfte sind nur über Stufen erreichbar, ebenso Zimmer in Hotels.
Nicht barrierefrei sind unter anderem das Fifty-Fifty, das Kunstmuseum, das Manhattan-Kino und teilweise auch das Cinestar.
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