In Socken auf der Suche nach dem Paradies

20.12.2015, 18:50 Uhr
In Socken auf der Suche nach dem Paradies

© Foto: Roland Fengler

So hat man die Tafelhalle noch nie erlebt: Feldbetten, eine Küche mit dampfenden Töpfen und ein riesiger runder Teppich auf der Bühne schaffen Wohlfühlatmosphäre. Auch wenn die Themen, die da auf Leinwänden, in Hörspielen und Live-Gesprächen verhandelt werden, oft alles andere als gemütlich sind. Die Besucher laufen auf Socken, lümmeln auf Kissen, kosten die Reisgerichte, trinken Tee, hören zu, diskutieren, bringen sich ein und lassen sich überraschen, von dem was Beate Höhn und Arne Forke vom Theater-Kollektiv „coLabs“ und Peter Wendl mit seinen Studenten von der Nürnberger Kunstakademie auf die Beine gestellt haben: einen 16-stündige Performance-Reigen.

Feldbetten für die Besucher

Der beginnt mit Meditation am Spätnachmittag und endet mit einem gemeinsamen Frühstück. Dazwischen: Filme wie der großartige Beitrag „Human“ von Yann Arthus Bertrand über die Frage, was es bedeutet, Mensch zu sein, Vorträge über Utopien des Augenblicks, Choreografien wie der berührende, fast einstündige Beitrag von Johanne Timm über ihre Großeltern, die sich im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen kennenlernten. Und bei einem schamanischen Trance-Ritual können sich die Besucher aufmachen, unter Trommelklängen das eigene innere Paradies zu finden.

In Socken auf der Suche nach dem Paradies

© Foto: Roland Fengler

Schlag auf Schlag folgen die Beiträge. Im Paradies herrscht hohe Taktzahl. Und Themenvielfalt. Claudia Holzinger etwa berichtet in ihrem Hörspiel „Holyland Experience“ von einem Ausflug in einen christlichen US-Freizeitpark — Jesus-Figuren aus Pappe an jeder Ecke, Geglitzer und Geblinke und Plastikaltäre für die religiöse Erleuchtung. Typisch Amis? „In Deutschland“, meint Holzinger beim Künstlergespräch, „sei so etwas jedenfalls undenkbar“. Benjamin Zuber thematisiert in seinem Film „Hoc est corpus meum“ (dies ist mein Leib) die visuellen Mittel des Sakralen und Religiösen. Gedreht hat er das absurde Spektakel in einer oberfränkischen Kirche und präsentiert es auf dreigeteilter Leinwand wie einen Flügelaltar. Und Carmen Westermeier spricht in ihrer DJ-Performance ganz offen und brutal direkt die Frauenfeindlichkeit in der Popmusik an. Eva als Opfer im Macho-Rap.

Mit Gästen aus Syrien, einer Skype-Schaltung nach Beirut und einem künstlerischen Filmbeitrag zur Flüchtlingssitaution an der ungarischen Grenze wird es dann deutlich politischer. Mey Seifen, Künstlerin aus Syrien, zeigt Bilder von den fröhlichen Anfängen der Revolution in ihrem Heimatland und der Lage heute. Bilder, wie man sie aus den Medien eben nicht kennt. Sie berichtet aus erster Hand und zieht visuelle Parallelen zu den friedlichen Demonstrationen damals auf den Straßen Syriens und heute auf den Flüchtlingsrouten. Menschen auf dem Weg ins Paradies?

„Zerstörung für Anfänger“ heißt ihr Theaterzyklus, von dem sie Ausschnitte präsentiert. Er basiert auf einem Archiv von Träumen, das sie gesammelt hat — von Assad-Gegnern und -befürwortern. „Meine eigenen Träume haben sich nach der Revolution krass verändert“, sagt die Künstlerin. Und ist damit nicht allein. Seit vier Jahren befragt sie Landsleute nach ihren (Alb)Träumen und stellt erstaunliche Parallelen fest: „Wasser und Ertrinken sind immer wiederkehrende Bilder.“

Mit dem „Paradies-Kunst-Raum“ in der Tafelhalle startete das groß angelegte Projekt von Beate Höhn und ihren Partnern erst: „Wir werden die Fülle an Recherchematerial jetzt auswerten und daraus ein Tanztheaterstück zusammen mit Kollegen aus dem arabischen Raum erarbeiten“, so Höhn. Zum Auftakt aber hat man mit dieser experimentellen Mischung aus Mitmachaktion, Seminar und Kunstcamp ganz bewusst die Grenzen gesprengt — zeitlich, genreübergreifend und mit einer Kulturinstitution, die zum Schlafsaal wird. Ermöglicht hat das mehrteilige Projekt die erstmals vergebene Impuls-Förderung der Stadt Nürnberg. Mit dem ebenso ambitionierten wie spannenden und außergewöhnlichen Paradies-Camp nahm es einen vielversprechenden Anfang.

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