Kindsmissbrauch in der Kirche: "Dunkelziffer deutlich höher"

26.9.2018, 14:21 Uhr
Kindsmissbrauch in der Kirche:

© Foto: Uwe Zucchi, dpa

Alles, was zur Aufarbeitung des Skandals beitrage, sei gut, aber: "Ich habe meine größten Zweifel an der Methodik", sagt Claudia Mönius. "Ich habe an meinem Fall erfahren, wie mit aller Kraft alles unterm Deckel gehalten wurde."

Claudia Mönius ist eine Betroffene. Als sie ein Mädchen war, missbrauchte sie der Pfarrer ihrer Nürnberger Gemeinde sexuell, über Jahre hinweg, ebenso wie eine weitere Ministrantin. 2010, als die katholische Kirche in die Aufklärungsoffensive ging, zeigte Mönius den Geistlichen an. Er redete seine Pädophilie klein. Er war inzwischen im Ruhestand, seine Taten verjährt. Sein Anwalt schlug ihr ein Schweigeabkommen vor, das sie ablehnte.

Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick erteilte dem Täter ein Zelebrationsverbot; er darf nicht mehr öffentlich als Priester auftreten. Mönius erhielt 20.000 Euro Schmerzensgeld. Das war’s. Auf ihre Briefe und Anfragen an den Bischof bekam sie Formschreiben zurück, teils überhaupt nur auf Druck der Presse.

Keil zwischen Laien und Amtsträgern

Die neue Zahl von bundesweit 3700 dokumentierten Missbrauchsfällen an Kindern und Jugendlichen überrascht die heute 50-Jährige daher nicht. "Die Dunkelziffer ist bei Weitem höher." Wenn jetzt Kirchenobere ihre Bestürzung ausdrücken und Gebete für Opfer und Täter anstimmen, empfindet Mönius dies als zynisch. "Jungs, sorry, das war doch alles längst bekannt!"

Kindsmissbrauch in der Kirche:

© Gauck

Auch Peter Laufkötter, einer der beiden Vorsitzenden des Nürnberger Katholikenrats, rechnet mit einer deutlich höheren Opferzahl als die, die nun veröffentlicht wurde. "Das sind ja nur die Fälle, die man untersucht hat. Es haben sich nicht alle Bistümer beteiligt und es gab eine Vorauswahl bei den Akten." Laufkötter ist enttäuscht vom Umgang der katholischen Kirche mit den Missbrauchsfällen. Aus seiner Sicht hätte man vollumfänglichen Zugriff auf alle Akten gewähren müssen. "Es ist schlimm genug, dass Geistliche Kinder und Jugendliche missbraucht haben. Und das dort, wo sie sich in einem Schutzraum fühlten. Aber dass man Fälle jahrzehntelang vertuscht und kaum einen Täter zur Rechenschaft gezogen hat, das finde ich noch schlimmer. Weil es die Opfer zusätzlich verhöhnt."

Kritik an Verschleierung

Der Laienvertreter kritisiert auch, dass die Namen der Vertuschenden und die betroffenen Bistümer nicht veröffentlicht werden. Diese Verschleierung, sagt Laufkötter, füge der katholischen Kirche enormen Schaden zu: "Wer traut den Hauptamtlichen denn jetzt noch? Die Macht der Kirche ist das Wort. Wenn die Menschen den Worten nicht mehr vertrauen können, haben wir ein Problem. Und wenn sie schon bei diesem Thema lügen, sagen sie dann sonst die Wahrheit?" Diese Angst bezieht er indes nicht nur auf die Öffentlichkeit, sondern auch auf sich persönlich. "Das wird in der Zusammenarbeit mit Hauptamtlichen schwierig für mich. Ich werde trotzdem versuchen, jedem Menschen offen zu begegnen, aber der Umgang mit den Missbrauchsfällen hat einen Keil zwischen Hauptamtliche und Laien getrieben."

Ja, ihm seien auch schon Zweifel an seinem Ehrenamt gekommen, gibt Peter Laufkötter zu. "Ich habe mich gefragt, ob es sich lohnt, noch weiterzumachen." Letztlich kam er für sich aber zu dem Schluss, dass die Kirche nicht aus Ämtern besteht: "In Nürnberg gibt es rund 100.000 Katholiken. Davon sind nur ein paar wenige Hauptamtliche, und unter denen wiederum nur ein kleiner Teil, die Missbrauch betrieben oder ihn vertuscht haben." Für Laufkötter stehen das Zusammenleben in der Gemeinde und die gegenseitige Hilfe im Vordergrund. "Es wäre schön, wenn die Hauptamtlichen uns dabei unterstützen, aber wenn es nicht so ist, können wir auch damit leben."

Kindsmissbrauch in der Kirche:

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Auf Kritik von außen macht der Katholikenrats-Chef sich durchaus gefasst. "Ich werde sicher gefragt werden, wie ich diese Institution noch unterstützen kann. Dafür habe ich auch Verständnis." Er könne aber die Kritik von seiner persönlichen Arbeit trennen: "Es trifft mich schon, weil es meine Kirche betrifft, aber es trifft mich nicht persönlich."

Während Peter Laufkötter die katholische Kirche klar und offen kritisiert, gibt sich Michael Ziegler überraschend zugeknöpft. Der ehemalige Nürnberger SPD-Stadtrat arbeitet seit vergangenem Jahr als Diözesanvorsitzender des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) im Erzbischöflichen Jugendamt in Bamberg. Ziegler mag sich nicht kritisch zum Umgang mit der Missbrauchsstudie äußern. Auf die Frage, ob die Kirche in der Vergangenheit Fehler gemacht habe, antwortet er nicht, betont dafür aber die gute Präventionsarbeit im Bereich sexualisierte Gewalt.

Ziegler lobt öffentliche Diskussion

"Wir haben vor zehn Jahren intensiv mit diesem Thema angefangen", sagt Ziegler, der vor seinem jetzigen Amt BDKJ-Bildungsreferent in Nürnberg war. Alle Mitarbeiter absolvierten regelmäßig Schulungen zu diesem Thema, und auch die Gruppenleiter würden geschult, was die Prävention von sexualisierter Gewalt angeht. "Ansonsten ist das bei unserer Jugend aber kein Thema", sagt Ziegler auf die Frage, wie man die neuen Enthüllungen mit den jungen Menschen aufarbeitet. "Es ist doch gut, dass in der Öffentlichkeit jetzt so offen über das Thema gesprochen wird, nicht mehr hinter verschlossenen Türen. Und das macht die katholische Kirche ja auch."

Die Nürnbergerin Claudia Mönius sagte mehrfach vor der Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs aus. Von diesem Gremium fühlt sie sich hochprofessionell behandelt – ganz anders als von der Kirche. "Genauso schändlich wie der Missbrauch war es, ihn zu bagatellisieren." Im Zölibat sieht sie nur eine von mehreren Ursachen für den "Missbrauchsapparat".

Auch die Macht eines Männerbundes, der Amtsdünkel und ein Schweigekartell von Gläubigen trügen dazu bei. "Wer sagt, dass das heute nicht mehr vorkommt?" Generell bräuchten Priester ab Beginn ihrer Ausbildung viel mehr psychologische Begleitung, "und zwar nicht durch Kleriker". Die Bistümer müssten betroffene Gemeinden umsichtig informieren. Diese wüssten oft nichts von Sextätern in ihren Reihen. "Da werden natürlich intakte Bilder zerstört."

Mönius geht an Öffentlichkeit

In ihrem im Frühjahr erschienenen Buch "Feuer der Sehnsucht" erzählt Mönius am Rande davon. Damals bat sie im NZ-Gespräch, die Missbrauchserfahrung nicht groß zum Thema zu machen. Jetzt geht sie doch in die Öffentlichkeit, Dienstagabend im "heute-journal", mittwochs in der ARD-Sendung "Maischberger". "Ich möchte andere Betroffene ermutigen. Wir müssen Gesicht zeigen", sagt sie. "Und es ist mein Beitrag zum Überleben unserer wunderbaren Religion."

Einer Religion, die sich nötigenfalls von der Institution Kirche lossagt. "Im Endeffekt müsste man den ganzen Laden schließen und neu anfangen." Zurzeit hat Claudia Mönius wenig Hoffnung auf eine Gesundung der Kirchenstrukturen. Zurzeit denkt sie wieder daran, auszutreten.

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