Arm trotz Arbeit: Die Früchte der Politik Schröders?

6.7.2017, 14:08 Uhr
Immerhin etwas: Die Hans-Böckler-Stiftung lobt den Mindestlohn als Mittel gegen immer mehr Erwerbsarme.

© dpa Immerhin etwas: Die Hans-Böckler-Stiftung lobt den Mindestlohn als Mittel gegen immer mehr Erwerbsarme.

Woher stammen die Zahlen?

Aus einer neuen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Demnach ist fast jeder zehnte Erwerbstätige zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland arm. Dieser Anteil entspricht zwar dem EU-Schnitt, besorgniserregend aber ist, dass er sich in der Bundesrepublik von 2004 bis 2014 verdoppelt hat. Deutschland belegt mit diesem Anstieg den traurigen Spitzenplatz in Europa - und das mit großem Abstand.

Ab wann gilt man als betroffen?

Erwerbsarmut liegt vor, wenn das Einkommen eines Beschäftigten unterhalb der Armutsgrenze liegt, die auf 60 Prozent des Median-, also des mittleren Einkommens, beziffert wird. In Deutschland liegt die Armutsschwelle derzeit für einen Einpersonenhaushalt bei rund 11.800 Euro netto im Jahr, für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 24.800 Euro.

Was sind die Gründe für die Entwicklung?

Die Studie sieht einen Zusammenhang zwischen Erwerbsarmut auf der einen und Kürzungen sowie strengen Regeln für den Bezug von Arbeitslosenhilfe auf der anderen Seite. Letzteres führe dazu, dass Menschen sich gezwungen sähen, prekäre, schlecht bezahlte oder Teilzeit-Arbeit anzunehmen - etwa im Dienstleistungssektor. Die Annahme, mit Beschäftigungswachstum (wie es Deutschland zuletzt massiv erlebte) gehe automatisch eine Verringerung der Armut einher, sei deshalb falsch. Aus arbeitslosen armen Menschen würden oftmals erwerbstätige arme Menschen.

Was sagen Experten zu der Studie?

"Was wir hier sehen, das ist der Effekt dessen, was Gerhard Schröder in Davos mal als den 'besten Niedriglohnsektor', der in Europa geschaffen worden ist, bezeichnet hat", sagt Professor Stefan Sell, Volkswirtschaftler und Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz, gegenüber den Nürnberger Nachrichten. "Die 'Früchte' dieser Entwicklung werden jetzt geernet." Das werfe "einen ganz erheblichen Schatten" auf das deutsche Jobwunder, das es quantitativ gegeben habe, was aber noch nichts über die Qualität der geschaffenen Arbeit ausgesagt habe.

Stützen auch andere Daten die Studienergebnisse?

"Die Zahlen sind eigentlich noch dramatischer", sagt Sozialwissenschaftler Sell. Das zeige ein Blick auf die Löhne: "Der Anteil der Arbeitnehmer, die in Deutschland einen Niedriglohn beziehen, ist im europäischen Vergleich hoch." So verdienten 22,5 Prozent der Beschäftigten unter der Niedriglohnschwelle von 10,50 Euro pro Stunde. Zum Vergleich: Im Euroraum insgesamt kämen nur 15,9 Prozent der Arbeitnehmer mit Niedriglohn nach Hause. Dennoch hätten selbst viele dieser 15,9 Prozent mehr in der Tasche als deutsche Niedriglöhner, sagt Sell, da im Euroraum der Niedriglohn schon bei unter 14,10 Euro beginne.

Sell beklagt zudem eine "Polarisierung der Beschäftigungsstrukturen" zwischen Gewinnern, die von hohen Tarifabschlüssen profitierten, und Verlierern, die heute weniger Geld zur Verfügung hätten als in den 90er Jahren. Gleichzeitig schrumpfe die Zahl der "Normaljobs in der Mitte" - unter anderem durch die Tarifflucht vieler Arbeitgeber.

Wie lässt sich gegensteuern?

Die Hans-Böckler-Stiftung empfiehlt, noch stärker als bisher eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, das heißt Menschen mit Qualifizierungsmaßnahmen weiterzubilden und so ihre Chance auf einen besser bezahlten Job zu erhöhen. Dies müsste aber mit "auskömmlichen Lohnersatz- und Sozialleistungen einhergehen". Darüber hinaus "sollten die Zumutbarkeitsregeln im Hartz-IV-System entschärft werden". Sprich: Der Druck, (fast) jede Arbeit anzunehmen, müsse sinken. Sell empfiehlt zudem, Tarifverträge in solchen Branchen für allgemeinverbindlich zu erklären, in denen wie im Einzelhandel "Wild-West-Methoden und Lohndumping" Einzug erhalten hätten.

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