Kommentar: Die Demokratie muss ihre Gegner ernster nehmen

29.8.2018, 07:39 Uhr
Argumente und Fakten stoßen da an Grenzen, wo Emotionen überkochen. Wo sich zu viele ihre eigene Weltsicht bauen aus Internetseiten, die ihre Wut teilen und schüren.

© Sebastian Willnow/dpa Argumente und Fakten stoßen da an Grenzen, wo Emotionen überkochen. Wo sich zu viele ihre eigene Weltsicht bauen aus Internetseiten, die ihre Wut teilen und schüren.

Die Kommunisten provozierten die Polizei immer wieder, die Nationalsozialisten zogen marodierend durch Innenstädte und attackierten bevorzugt alles, was ihnen irgendwie jüdisch vorkam.

Was nun in Chemnitz geschah, das erinnert durchaus an Weimar. Es geschah eine schlimme Straftat, vermutliche Migranten stachen einen Deutschen nieder — dann eskalierte die Lage, und etliche kochten ihr Süppchen an einem noch nicht geklärten Todesfall.

Linke und Rechte gerieten am Montagabend aneinander, in Chemnitz waren es vor allem die Nazis, die für die Eskalation sorgten. Ein brauner Mob war am Sonntag durch die Stadt marschiert und griff dabei wahllos Migranten an. Am Abend darauf zeigten etliche Demonstranten offen den verbotenen Hitlergruß — und eine Polizei, die selbst ihre Überforderung zugibt, sah zu.

Eine ähnliche Eskalation war zuletzt beim G 20-Gipfel in Hamburg zu erleben, als vor einem Jahr Chaoten (oder eher Terroristen) Gewaltorgien veranstalteten. Auch da tat sich die Polizei sehr schwer, das Geschehen in den Griff zu bekommen.

Das Recht der Straße

Es sind dies Zustände, die um keinen Preis hinzunehmen sind in einem funktionierenden Rechtsstaat. Eigentlich. Aber sie wurden, jedenfalls vorübergehend, hingenommen. Weil die Ordnungshüter zu schwach waren, um die Ordnung zu hüten. Was heißt: Der Rechtsstaat war zeitweise außer Kraft gesetzt, es galt de facto das Recht der Straße.

Da läuft etwas, da läuft vieles gewaltig schief – nicht nur, aber vor allem im Freistaat Sachsen. Es herrscht dort wie in den anderen östlichen Ländern eine Stimmung, die vergleichbar ist mit der in Ungarn, Polen und anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks: Teils eine Mehrheit, teils eine wachsende Minderheit hat keine Probleme mit dem oft nicht einmal schleichenden Abbau von Demokratie. Im Gegenteil: Viele begrüßen den Kurs der Abschottung und der Ausgrenzung. Die Einhaltung von Menschenrechten oder Grundfreiheiten ist ihnen da egal — solange es nicht um die eigenen Rechte und die eigene Freiheit, sondern "nur" um die von Anderen geht, in der Regel Zugewanderten oder Andersdenkenden.

Wenn sie dann sehen, wie Clans in Berlin sich mit der Staatsmacht anlegen, wenn sie auch sehen, wie manche, einige wenige Migranten keinen Respekt vor dem Staat zeigen, in dem sie Schutz suchen: Dann entsteht da ein brisanter Mix aus Verbitterung, Wut, dem Gefühl, zu kurz zu kommen, und Hass auf andere, die pauschal zu Sündenböcken werden. Auch da droht sich, siehe Weimar, Geschichte doch zu wiederholen.

Argumente ohne Chance

Argumente und Fakten stoßen da an Grenzen, wo Emotionen überkochen. Wo sich zu viele ihre eigene Weltsicht bauen aus Internetseiten, die ihre Wut teilen und schüren. Bei den Wahlen, die 2019 in Sachsen, Brandenburg und Thüringen anstehen, liegt die AfD laut Umfragen bei 20 Prozent oder mehr, kann teils stärkste Partei werden. Eine Partei, in der etliche nicht erst seit Chemnitz das staatliche Gewaltmonopol infrage stellen.

Und sich im Aufwind sehen, als eine Art Vorhut im Kampf gegen einen Staat, der ihnen marode erscheint. Der LKA-Mitarbeiter (wieder mal) in Sachsen, der Journalisten anpöbelt und deren Grundrechte infrage stellt — er steht für dieses Gefühl der Stärke gegenüber einem Staat, der seine Gegner nicht ernst genug nimmt.

Das muss unsere Demokratie schleunigst tun. Und zwar alle Gegner: Clans, linksextreme Gewalttäter. Und im Osten vor allem braune Nationalisten, die erklärte Feinde der Freiheit sind. Wir haben Krisenregionen einer funktionierenden Demokratie, die da unter einer zu oft wegsehenden, auch billigenden Politik entstanden sind. Zonen der Wut, Zonen der Gewalt, Zonen des entgrenzten Hasses. Und mit viel zu wenig Zivilität und Courage, die sich dem entgegenstellt.

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