Märtyerkult ist für junge Iraner nichts wert
09.01.2017, 15:29 UhrDie überdimensionierten schwarzen Fußabdrücke auf der am Gehsteig liegenden US-Flagge sollen Passanten dazu animieren, darüber zu laufen. Auf dem engen Fußweg in der Enghelab-Straße, Revolutionsstraße, in Teheran sollen sie das "feindliche Land" symbolisch mit Füßen treten – und dasselbe mit der israelischen Flagge tun. Anlass ist die "Kriegswoche", die jährlich an den Iran-Irak-Krieg in den 80er Jahren erinnern soll und mit öffentlichen Aktionen und Ausstellungen den Märtyrerkult beschwört.
Mehrdad und Maryam sind eines der typischen jungen Pärchen in Teheran, die mit den einstigen Werten der Islamischen Revolution nichts mehr anfangen können und sich stattdessen ein säkulares System wünschen. Das zeigen sie schon rein äußerlich. Statt die Haare islamisch korrekt zu bedecken und den Körper so zu verhüllen, dass die weiblichen Umrisse unsichtbar bleiben, trägt Maryam einen eng taillierten Mantel über ihrer Designerjeans.
Die Kleidervorschriften werden nicht mehr beachtet
Statt eine unauffällige Farbe zu wählen, setzt sie auf ein auffälliges Royalblau, in das am Rücken ein farbenfrohes Print aus teurem Seidenstoff eingearbeitet ist. Ihre Strähnen schauen aus dem dünnen Schal heraus, den sie lässig um die Haare geschwungen hat, nur um den geltenden Kleidervorschriften noch irgendwie Rechnung zu tragen – und zu provozieren. Ihr Freund Mehrdad, im roten Kurzarm-T-Shirt statt im gewünschten langärmligen Hemd, nimmt offen ihre Hand. Unter Religiösen ist es verpönt, sich in der Öffentlichkeit Liebesbekundungen zu zeigen. Und zudem dürfen Pärchen erst zusammen unterwegs sein, wenn sie verheiratet sind.
Auch bei der Anti-Kriegs-Woche, die dem Märtyrerkult huldigt, weigert sich das junge Paar entschieden, das zu tun, was von den Kindern der
Revolutionäre erwartet wird, und was ihnen jahrelang sowohl in der Schule als auch an der Uni eingetrichtert wurde. Demonstrativ weichen der 24-jährige Ingenieurstudent und die gleichaltrige Industriedesign-Studentin den Fahnen aus und laufen links daran vorbei. Kopfschüttelnd sagt Mehrdad: "Was soll die Propaganda hier? Die USA sind unser Freund, und alle Völker sollten heute in Frieden miteinander leben. Es wäre eine Schande, auf deren Flaggen zu treten."
Korane, rote Tulpen und weiße Tauben
Auch die mehr als ein Dutzend aufgebauten Zelte würdigen die Beiden kaum eines Blickes. Im Inneren sind leinwandgroße Fotos von kampfbereiten Soldaten zu sehen, auch von sehr jungen und sehr alten; von solchen, die den achtjährigen Krieg überlebt haben, vor allem aber von denen, die nach islamischer Vorstellung durch ihren selbstlosen Einsatz zu Märtyrern im Dschihad gegen den einstigen sunnitischen Erzfeind Saddam Hussein wurden. Zu sehen sind auch Korane, Blut und den Märtyrertod symbolisierende rote Tulpen sowie weiße Tauben als Symbol der Seele.
"Es tut mir wirklich sehr leid um die vielen Soldaten, die im Krieg gestorben sind", sagt Mehrdad. Aber wie die meisten seiner Altersgenossen, die erst nach diesem Krieg geboren wurden, hält er diese Art des Erinnerungskults für "falsch". Denn die Aktionen werden von den berüchtigten Revolutionsgarden, auch Sepah Pasdaran oder nur kurz Pasdaran genannt, organisiert. Sie halten verbissen an der Staatsdoktrin fest und torpedieren alle Freiheitsbestrebungen junger Menschen im Iran.
Reformorientierter Präsident, starke Revolutionsgarden
Dabei sind die Revolutionsgarden die eigentliche Macht im Staat, weil sie große Teile der Wirtschaft und der Politik kontrollieren und ihre Pfründe nicht aus der Hand geben wollen. Der 2015 mit dem Westen ausgehandelte Atomdeal ist ihnen zuwider, weil sie durch die Aufhebung der Sanktionen und international florierende Wirtschaftsbeziehungen ihre Macht verlieren würden.
Dass sie angesichts ihrer enormen Machtfülle dem reformorientierten Staatspräsidenten Hassan Rohani einen Stein nach dem anderen in den Weg legen, macht nicht nur Menschen wie Mehrdad und Maryam wütend, die die Öffnung des Landes unter Rohani so sehr herbeigesehnt haben und darin die große Chance auf wirtschaftliche Verbesserungen sehen. Mit ihrer Kritik halten sich Mehrdad und Maryam im Gegensatz zu einem anderen Passanten aber zurück. "Das sind doch Terroristen", sagt ein Mann mittleren Alters ganz offen zu einigen an der Ausstellung vorbeischlendernden Touristen: "Schaut euch diese Propaganda-Ausstellung bloß nicht an."
Angst vor den Organisatoren, die in den Zelten sitzen oder Zeitschriften an Passanten verteilen, scheint er dennoch nicht zu haben. Genauso wenig wie unzählige Mitfahrer in den Sammeltaxis, die Tag für Tag ihrem Ärger über die wahren Machthaber überraschend freien Lauf lassen.
Wahlversprechen nicht umgesetzt
Das Klima in Teheran ist in den vergangenen Jahren deutlich offener, ja angstfreier geworden – und das, obwohl noch immer zahlreiche politische Gefangene im Evin-Gefängnis sitzen. Einer von ihnen ist der Nürnberger Menschenrechtspreisträger Abdolfattah Soltani, der seit 2011 inhaftiert ist. Dass Rohani sein Wahlversprechen, sich für die Freilassung aller politischer Gefangener einzusetzen, nicht umsetzen konnte, zeigt für viele Menschen, wie schwach der Präsident in Wirklichkeit ist – und wie stark der geistliche Führer Ayatollah Ali Chamenei und die ihn unterstützenden Revolutionsgarden sind.
Das meint auch der Politik-Experte Hojat Asadi, dessen Bruder als Märtyrer im Krieg gefallen ist. Asadi gilt selbst als Revolutionär der ersten Stunde – und betrachtet heute dennoch den Märtyrerkult "als eines der grundlegenden Probleme unseres Landes". Das kommuniziert er auch offen in Sozialen Netzwerken wie dem im Iran beliebten "Telegram".
Wie kam es zu dem Sinneswandel? Der heute 58-Jährige war zu Beginn des Krieges in den frühen 1980er Jahren selbst hochrangiges Mitglied der Revolutionsgarden und kämpfte für die Ziele der frühen Revolutionäre, von denen aus seiner Sicht heute "nichts mehr übrig geblieben ist": soziale Gerechtigkeit mit gleichen Bildungschancen und einer Gesundheitsversorgung für alle etwa.
Kritik an Korruption und Prostitution
Auf diese Art würden islamische Prinzipien wie die Fürsorgepflicht in die Tat eigentlich umgesetzt. Dazu würde auch gehören, dass jeder eine würdevolle Arbeit hat, von der er leben kann und nicht auf moralisch anrüchige Jobs oder auf den Drogenhandel angewiesen ist. Doch was ist daraus geworden?
Diese Frage diskutiert er mit seinen Freunden aus der damaligen Zeit in einer eigenen Telegram-Gruppe. Nur drei von etwa 200 Mitgliedern seien heute noch regimenah, meint er. Der Rest kritisiert heftig die im Land grassierende Korruption, empört sich über die Prostitution, zu der arme Frauen sich gezwungen sähen und über die Drogenabhängigkeit vieler Menschen. "Das ist genau das Gegenteil von dem, wofür wir einst gekämpft haben", sagt ein anderes Mitglied der Telegram-Gruppe, das ebenfalls in Kriegszeiten bei den Revolutionsgarden aktiv war und einst idealistische Vorstellungen hatte. Beide stehen den Pasdaran heute fern – und betonen, dass sie selbst niemals die Vorteile in Anspruch genommen hätten, die ihnen als frühe Mitglieder angeboten wurden, etwa den vergünstigten Kauf einer Wohnung.
Märtyrerfamilien genießen bis heute Privilegien
Asadi, der zudem selbst aus einer Märtyrerfamilie stammt, hätte weitere Vorteile nutzen können, die er alle abgelehnt habe. Denn es ist gesetzlich geregelt, dass Mitglieder von Märtyrerfamilien bis heute Privilegien genießen – das reicht von verbilligten Zugtickets über gutbezahlte staatliche Jobs bis hin zum erleichterten Zugang zu Universitäten. "Doch meine Eltern und alle anderen aus meiner Familie haben das immer abgelehnt", sagt er." Ja, mein Bruder ist als Soldat im Krieg gestorben wie so viele andere, und wir sind traurig", meint der Experte. "Aber warum sollen wir aus einem toten Familienmitglied Profit schlagen?" Es gehe ihm gegen den Strich, dass der gefallene Bruder "heute zu Propagandazwecken missbraucht wird".
Sein Idealismus geht so weit, dass er seiner Tochter nicht dabei hilft, durch die ihm zustehenden Privilegien einen Studienplatz für Medizin an ihrer Wunsch-Uni in Teheran zu bekommen. Sie hat von Mitschülerinnen gehört, dass ihr Ergebnis für die Uni-Aufnahmeprüfung um ein paar wichtige Punkte nach oben hätte korrigiert werden können, weil sie aus einer Märtyrerfamilie stammt. Dank ihres gefallenen Onkels könnte sie tatsächlich an der Uni studieren. Doch der Vater sagt dazu konsequent Nein. Nun wählt sie ein anderes Studienfach, um in der Stadt bleiben zu können.
Sich nehmen, was man kriegen kann
Denn die grassierende Korruption und die politischen Probleme hätten ihre Wurzeln in diesem System von Profiteuren, wodurch sich die Mentalität des "sich nehmen was man kriegen kann" breit gemacht habe, begründet Asadi sein Handeln. Und diese Pfründe möchten die Betroffenen natürlich nicht mehr hergeben.
Genauso wenig würden die heutigen Angehörigen der Revolutionsgarden, bei denen viele Mitglieder aus Märtyrerfamilien arbeiten, jetzt auf ihre Vorteile verzichten wollen. Dazu gehört die Importkontrolle, die sie seit Jahren ausüben und von der sie in Zeiten der Sanktionen sehr gut leben konnten. Deswegen sind sie auch so strikt gegen das Atomabkommen, wie der politische Beobachter klarmacht.
Bereits drei Tage nach Unterzeichnung des Vertrags mit den 5+1-Staaten hätten die Pasdaran mit einem Seemanöver die Botschaft an die internationale Gemeinschaft geschickt, dass sie mehr zu sagen haben als der Präsident.
Das große Problem heute sei, dass jene Kräfte gegen die Unterzeichnung des Abkommens mit der Financial Action Task Force (FATF) massiv Front machten – und Abgeordnete mit Einschüchterungsversuchen davor warnten, es zu unterzeichnen. Der Vertrag mit der OECD-Behörde, die weltweit Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung kontrolliert, ist aber die Voraussetzung dafür, dass der Iran wieder ins Geldtransfer-System Swift aufgenommen wird. So lange das iranische Parlament nicht zustimmt, dass künftig alle Geldtransfers des Iran kontrolliert werden können, bleibt das Land auf der Schwarzen Liste der FATF.
Das ärgert junge Leute wie Mehrdad und Maryam genauso wie die Mitglieder der reformorientierten Regierung Rohanis. Sie alle wollen florierende Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen und ein Ende der Regime-Propaganda gegen die USA.
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