Sexualdelikte: Warum gibt man den Opfern eine Mitschuld?

28.12.2015, 08:51 Uhr
Übergriffe werden nicht nur von Fremden begangen, sondern auch von Ehepartnern oder Familienmitgliedern.

© colourbox.com Übergriffe werden nicht nur von Fremden begangen, sondern auch von Ehepartnern oder Familienmitgliedern.

Das liegt an den Mythen, also gewissen falschen Vorstellungen und Legenden, die sich um die Thematik „sexuelle Aggression“ ranken, wie der Sozialpsychologe und Genderforscher Gerd Bohner erklärt. Der Wissenschaftler von der Universität Bielefeld war zu Gast beim Rechtspsychologischen Kolloquium der Universität Erlangen-Nürnberg.

NZ: Herr Prof. Bohner, Sie beschäftigen sich mit Genderforschung und haben Mythen rund ums Thema Vergewaltigung untersucht. Welche Mythen sind das?

Gerd Bohner: Wir unterscheiden klassische und moderne Mythen. Einige Beispiele für klassische Mythen: Frauen würden Männer oft fälschlich der Vergewaltigung bezichtigen; Frauen wünschten sich insgeheim, vergewaltigt zu werden; oder Frauen, die „aufreizende“ Kleidung tragen, seien selbst schuld, wenn ein Mann übergriffig werde. Diese sehr direkten und offen frauenfeindlichen Mythen wurden in jüngerer Zeit durch subtilere, moderne Mythen abgelöst: Zur Sexualität gehöre einfach eine gewisse Portion männlicher Aggressivität dazu; oder für die „wahren“ Opfer von sexueller Gewalt werde doch schon mehr als genug getan.

NZ: Warum neigt man bei dem Thema dazu, Frauen eine Mitschuld zu geben und Männer zu entschuldigen?

Sozialpsychologe und Genderforscher Prof. Dr.Gerd Bohner forscht an der Universität Bielefeld.

Sozialpsychologe und Genderforscher Prof. Dr.Gerd Bohner forscht an der Universität Bielefeld.

Bohner: Nicht nur beim Thema Belästigung, sondern auch bei sexueller Gewalt ganz allgemein, dient die Schuldzuweisung an die Opfer dazu, den „Glauben an eine gerechte Welt“ aufrechtzuerhalten. Menschen neigen dazu, die Welt als gerecht anzusehen, als einen Ort, wo jede(r) das bekommt, was er oder sie verdient hat. Wenn man dann erfährt, dass jemand ohne eigenes Verschulden zum Opfer von Übergriffen wurde, ist diese Weltsicht bedroht.

Eine Möglichkeit, sie wieder herzustellen, besteht darin, den Opfern zu helfen und den Schaden wiedergutzumachen. Da dies oft nicht möglich ist, tendieren Menschen aber auch dazu, die Schuld beim Opfer zu suchen. Damit erfüllen die Mythen auch eine trügerische Selbstschutz-Funktion: Wenn Gewalt nur denen angetan wird, die daran selbst schuld sind, kann mir nichts passieren, denn ich verhalte mich ja richtig.

NZ: Wie stellt man fest, wer welche Mythen verinnerlicht hat?

Bohner: Wir verwenden vor allem Fragebogenskalen, bei denen die Befragten angeben, wie sehr sie bestimmten Aussagen, die Mythen repräsentieren, zustimmen oder diese ablehnen.

NZ: Haben Frauen und Männer unterschiedliche Betrachtungsweisen?

Bohner: Geschlechtsunterschiede zeigen sich weniger in der Art der Mythen als im Ausmaß der Zustimmung. Männer stimmen Mythen meist stärker zu als Frauen, und dies besonders bei klassischen Mythen, weniger bei den modernen.

NZ: Woher kommen die Vorurteile?

Bohner: Wie andere Vorurteile auch, erwerben wir diese Einstellungen im Lauf der Sozialisation. Sie werden von Eltern an ihre Kinder weitergegeben und innerhalb der Gruppen von Gleichaltrigen kommuniziert und so aufrechterhalten. Wir haben in unseren Studien unter anderem zeigen können, dass Studenten, die glauben, dass die Zustimmung ihrer Mitstudenten zu den Mythen gering ist, auch selbst die Mythen weniger akzeptieren.

NZ: Lassen sich solche Mythen ausrotten, beziehungsweise können Menschen aus Ihrem Denk-Korsett ausbrechen?

Bohner: Wenn wir die Möglichkeiten des sozialen Einflusses in Gruppen sinnvoll nutzen, lässt sich die Akzeptanz der Mythen reduzieren. Andere erfolgversprechende Ansätze bestehen in der Vermittlung von Information über die schlimmen Folgen sexueller Gewalt. In einer unserer Studien las eine Gruppe von Teilnehmern die Beschreibung einer sexuellen Belästigung aus der Perspektive des weiblichen Opfers, während einer anderen Gruppe die Sicht des männlichen Täters präsentiert wurde. Die Beschreibung aus der Opferperspektive, in der die Frau auch über die Angst und Erniedrigung sprach, die sie erlebte, führte zu einer deutlichen Reduktion der Mythenakzeptanz der Teilnehmer/innen.

NZ: Wenn nun Richter von bestimmten Überzeugungen geprägt sind — wie wirkt sich das auf die Bestrafung von Sexualstraftätern aus?

Bohner: Bei klarer Beweislage dürfte eine Verurteilung auch dann zu erwarten sein, wenn die Richter Mythen über sexuelle Gewalt verinnerlicht haben; allerdings könnten sich die Mythen auf das verhängte Strafmaß auswirken. Leider ist aber die Beweislage in Vergewaltigungsverfahren oft alles andere als klar – und dann machen Mythen bei den urteilenden Personen oft schon die Eröffnung eines Verfahrens relativ unwahrscheinlich.

NZ: Bis heute werden viele Vergewaltigungen bei der Polizei nicht angezeigt. Auch gibt es bei Sexualdelikten häufiger Freisprüche als bei anderen Straftaten. Inwiefern hat diese Praxis mit besagten Mythen zu tun?

Bohner: Dass Frauen keine Anzeige erstatten, liegt oft daran, dass sie das Erlebte aufgrund der herrschenden Mythen auch selbst nicht als Vergewaltigung erkennen. In den meisten Fällen sind die Täter Bekannte, Ex-Partner oder auch aktuelle Partner, und auch die Tatumstände entsprechen nicht der stereotypen Vorstellung von einer Vergewaltigung, bei der ein Fremder dem Opfer auflauert, es mit einer Waffe bedroht und ihm schwere körperliche Gewalt zufügt.

Wenn eine Frau dann doch erkennt, dass es sich bei dem, was ihr angetan wurde, um eine Vergewaltigung handelt, und Anzeige erstattet, ist oft ihre Aussage das wichtigste Beweismittel, das zu einer Verurteilung des Täters führen könnte. Aber die Mythen verhindern oft, dass der Frau geglaubt wird.

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