Wann ist eine Beschneidung zulässig?

11.7.2012, 10:40 Uhr
Wann ist eine Beschneidung zulässig?

© Illustration: Johanna Kanzler

Immerhin hat er eine OP hinter sich, einen chirurgischen Eingriff, für den seine Mutter eine weite Anfahrt in Kauf genommen hat: Aus Unterfranken ist die Türkin an diesem Mittwochnachmittag angereist, um ihren Sohn in der Nürnberger Praxis beschneiden zu lassen.

Deindls Patienten stammen aus ganz Nordbayern – und weit darüber hinaus. „Wir haben auch Familien aus Oberbayern“, berichtet der promovierte Facharzt. Der 54-Jährige hat sich schon vor Jahren auf Beschneidungen spezialisiert, zu einer Zeit, als noch keine Krankenkasse und auch kein Gericht die Rechtmäßigkeit der Eingriffe angezweifelt hat. Ein Drittel seiner jährlich rund 1500 Operationen sind Beschneidungen. Die Kinder beziehungsweise deren Eltern und Großeltern haben ihre Wurzeln in beinahe allen Ländern der Welt: vor allem in der Türkei, aber auch im Kosovo, in den ehemaligen Sowjetrepubliken und vielen afrikanischen Staaten – und (fast) alle sind Muslime. „Unser Wartezimmer ist ein richtiger Multi-Kulti-Kosmos“, sagt denn auch seine Ehefrau, die Praxismanagerin Grete Deindl. „Wir tauchen den ganzen Tag lang in eine bunte Familie ein“, erzählt die examinierte Krankenschwester mit einem Lachen.

Viel Lob aus der türkischen Gemeinde

Die Deindls mögen den Kontakt mit Menschen unterschiedlichster Herkunft. Zu einem respektvollen Umgang mit anderen Kulturen gehört für die beiden aber auch die Anerkennung fremder Riten und Rituale: Traditionen wie die Beschneidung im Islam und im Judentum. Da der Mediziner durch seine Art und seine Arbeit in der muslimischen Gemeinschaft seit langem einen guten Ruf genießt, kann er über fehlende Patienten nicht klagen. „Viele empfehlen mich weiter“, berichtet er, „oder bringen ihre zweiten und dritten Söhne zu mir.“

Der Erlanger Professor für Gegenwartsbezogene Orientforschung und Sprecher der Türkischen Gemeinde in der Metropolregion, Sefik Alp Bahadir, lobt Deindl ebenfalls als „bekannten Arzt“, der gerade bei Türken beliebt sei. „Die Beschneidung ist für Muslime ein absolutes Muss“, erklärt der türkische Wirtschaftswissenschaftler. Sehr selten lägen für den Eingriff gesundheitliche Ursachen vor: „Das ist keine medizinische Angelegenheit, sondern primär eine Frage des Glaubens.“

Das aber rechtfertigt derzeit keine kassenärztliche Leistung – und somit auch nicht die Kostenübernahme von rund 200 Euro pro Eingriff. Der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) erschien die Zahl der von Deindl in den letzten Quartalen vorgenommenen Beschneidungen auffallend hoch: „Die Häufigkeit dieser Leistungsabrechnung mit der Diagnosestellung einer Phimose (Vorhautverengung), gerade bei ausländischen Kindern, ist nicht nachvollziehbar, zumal einige Male bei ausländischen Geschwisterkindern eine solche Operation am selben Tag unter Angabe der identischen Diagnose abgerechnet wurde“, heißt es in einem Schreiben.

Im Vergleich dazu fällt die Zahl der Zirkumzisionen – wie Beschneidungen in der Fachsprache heißen – am Nürnberger Klinikum tatsächlich gering aus: Dort wurden im vergangenen Jahr 62 Beschneidungen durchgeführt. Dabei seien Patienten, die eine Beschneidung aus religiösen Gründen wünschten, die Ausnahme, erläutert Reimund Walther, der Leitende Oberarzt der Urologischen Klinik. Die größte Gruppe sind über 50-Jährige mit einer erworbenen, narbigen Phimose. An zweiter Stelle stehen Patienten im jugendlichen oder frühen Erwachsenenalter, die an einer angeborenen Phimose leiden.

Bei Deindl hingegen sind es hauptsächlich Jungen im Vorschulalter, die seiner Meinung nach an Vorhautverengung leiden. Der Facharzt für Kinderchirurgie und Chirurgie beteuert die Ordnungsmäßigkeit seiner Eingriffe – und seiner Abrechnungen. Es lägen immer medizinische Gründe vor. Außerdem rate er zuerst stets zu einer konservativen, also die Vorhaut bewahrenden Behandlung: „Aber was soll man machen, wenn eine Salbe nichts bringt oder sich die Kinder dagegen wehren?“, fragt er rhetorisch. Dann bleibe bei Erkrankungen wie einer Vorhautverengung nichts anderes übrig als eine Beschneidung, die er daraufhin in seinem hochmodernen ambulanten OP-Zentrum vornimmt.

Die KVB will sich damit nicht zufriedengeben – und verlangt von Deindl lückenlose Aufklärung. Dadurch sollte keinesfalls eine bestimmte Volks- oder Religionsgruppe diskriminiert werden, betont die stellvertretende Pressesprecherin Kirsten Warweg: „Wir teilen Patienten nicht nach Abstammung ein.“ Aber man müsse im Rahmen der Qualitätssicherung jeder Unstimmigkeit nachgehen. Das Kölner Urteil, das Beschneidung aus religiösen Gründen als Körperverletzung einstuft, mache die komplizierte Situation nur noch unübersichtlicher.

Das findet auch der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Max Kaplan. „Wir sind mit der Entscheidung nicht so glücklich“, sagt er. Da der „kulturunsensible“ Richterspruch die Beschneidung zum Straftatbestand mache, sei die Gefahr groß, dass Familien nun zunehmend ins Ausland fahren oder ihre Söhne von Laien beschneiden lassen: „Darunter wird die Hygiene leiden.“ Zumal viele Kollegen auf die Kölner Entscheidung verunsichert reagierten und Zirkumzisionen vorerst nicht mehr anbieten. Auch in politischer Hinsicht hält der Ärztefunktionär das Urteil nicht für optimal: „Wir sind eine offene Gesellschaft“, gibt er zu bedenken, „da sollte man andere Kulturen tolerieren.“

Mehr Akzeptanz fordert auch Deindl. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre für ihn die Übernahme der Kosten aus psychosozialer Indikation. Eine Familie, die ihren Sohn nicht beschneiden lässt, werde in der muslimischen Gesellschaft geächtet: „Das erzeugt Stress und macht krank.“ Deshalb sollte es für Ärzte die Möglichkeit geben, eine Beschneidung auch aus religiös-rituellen Gründen abzurechnen. „Wir dürfen unsere christlich-abendländische Kultur niemandem aufzwingen“ empört er sich.

Hinter dem Kölner Urteil aber stehe letztlich der Versuch, genau das zu machen: „Nach einem halben Jahrhundert Zuwanderung fällt uns auf, dass die Menschen Dinge tun, die uns nicht gefallen.“ Die Verantwortlichen für den Sinneswandel hat der Arzt schnell gefunden: „Da stecken die Kassen mitsamt ihrer Sparwut dahinter.“

Das ist für den Nürnberger Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), SPD-Stadtrat Arno Hamburger, eher unwahrscheinlich. Mit Schuldzuweisungen hält er sich lieber zurück. Ausländerfeindlichkeit oder Antisemitismus mag der 89-Jährige dem Richter und dessen Sympathisanten nicht unterstellen. Statt sich auf Spekulationen einzulassen, sagt er in typisch fränkischer Manier: „Das sind Spinner – die gibt es immer und überall.“

 

Lesen Sie auch das Interview mit der Rabbinerin Antje Yael Deusel und ihrer Meinung zum Thema Beschneidungen.

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