Das Grundschulabitur: Der Wahnsinn mit dem Übertritt

23.11.2017, 15:53 Uhr
Wer darf auf Gymnasium? Und wer nicht? Bayerns Grundschüler stehen unter einem enormen Druck.

© dpa Wer darf auf Gymnasium? Und wer nicht? Bayerns Grundschüler stehen unter einem enormen Druck.

Stichmonat für die Auslese nach Noten ist zwar traditionell der Monat Mai. Da gibt es Zwischenzeugnisse und auf die kommt es an. Doch für Schüler, bei denen der Übertritt aufs Gymnasium oder die Realschule noch nicht in trockenen Tüchern ist, beginnt genau jetzt der Prüfungsstress. Von Weihnachten bis Anfang Mai wird durchgebüffelt. Für die magische Schallgrenze von 2,33 (Gymnasium) oder 2,66 (Realschule). Und wer es nicht - wie vielleicht die Freunde - aufs Gymnasium schafft, fühlt sich als Versager.

"Eigentlich geht der Druck oft schon in der ersten Klasse los", erzählt Martin Löwe, Sprecher des Bayerischen Landeselternverbands. Ehrgeizige Eltern haken von Anfang an ein, um ihre Kinder auf das "große Ziel Gymnasium" einzuschwören. Löwe, selbst Vater von vier Kindern, weiß aus eigener Erfahrung, dass die Belastung kontinuierlich steigt und für die Viertklässler am größten ist.

Da werde ständig mit den Kindern geübt oder es gebe Nachhilfe bis zum Abwinken, sagt er. Freizeit und Entspannung sinken gleichzeitig auf ein Minimum. Und ob sich das Kind überfordert fühlt und Symptome zeigt, wird übergangen.

Überdurchschnittlich viele Schüler aus der bürgerlichen Mitte

Viele der ehrgeizigen Eltern sind selbst Akademiker. Eltern von Migranten oder aus den sogenannten bildungsfernen Schichten übten viel weniger Druck auf die eigenen Kinder aus, sagt Löwe. Mit dem Wechsel nach der Grundschule werden Kinder in Deutschland nicht nur nach Leistung getrennt, sondern zum Teil auch nach sozialen Milieus. Auf den bayerischen Gymnasien stammen überdurchschnittlich viele Schüler aus der bürgerlichen Mitte.

Es sind oft Kinder von Lehrern, Unternehmern oder Medizinern, seltener von Facharbeitern, Handwerkern oder Fließbandarbeitern. An den Haupt- und Realschulen ist die Schülerschaft hingegen gemischter. Damit spiegelt sich in den Gymnasien das wider, was viele Studien gebetsmühlenartig ankreiden, dass der Schulerfolg eben stark vom Elternhaus abhängt und zu wenig Bildungsgerechtigkeit im Land herrscht.

Mit dem Anwalt aufs Gymnasium

Etwas weniger als ein Drittel der bayerischen Eltern, schätzt Löwe, gehe sogar so weit, den Lehrkräften zu drohen oder einen Anwalt zu beauftragen, um den Übertritt des eigenen Kindes durchzudrücken. Immer mehr Eltern schreiben persönliche Beschwerden an den bayerischen Kultusminister Ludwig Spaenle, erzählt der Elternverbandsvorsitzende.

Für Löwe liegt es auf der Hand, weshalb immer mehr Kinder und Jugendliche unter Belastungsstörungen und Stresssymptomen leiden: "Sie dürfen ja nicht mehr richtig Kind sein." Stattdessen werden sie von der Schule nur für ihre messbaren Leistungen mittels Noten bewertet. Dabei könne kein Mensch bei einem zehnjährigen Kind mit Sicherheit sagen, welchen Beruf es später ergreifen werde. "Kinder in diesem Alter stecken doch noch mitten in der Persönlichkeitsentwicklung", sagt Löwe. 

Die Nürnberger Grundschullehrerin Ruth Brenner, die in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) aktiv ist, betont, dass es die Kinder demotiviere, wenn trotz großem Lernaufwand die Noten nicht entsprechend ausfallen. Die GEW stellt die Notengebung grundsätzlich infrage: "Wir fordern eine grundlegende Reform der Rückmeldung über Lernprozesse." Darin hätten Angst erzeugende, Versagen provozierende und das Lernen verleidende Bewertungen keinen Platz, sagt Brenner. Die Lernentwicklungsgespräche seien da ein guter Anfang.

Bayern in der Sonderrolle

Der Druck, der auf den Kindern lastet, werde durch das Schulsystem provoziert, dem die Eltern eben folgen, sagt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). Doch man müsse mit diesem System leben und weiter seine Missstände anprangern.

Einer davon ist für Fleischmann die Tatsache, dass Bayern mit seinem Übertrittsverfahren eine absolute Sonderrolle einnimmt. In allen anderen Bundesländern werde der Elternwille bei der Schulwahl stärker berücksichtigt, sagt die BLLV-Präsidentin.

In Österreich geht man indes neue Wege. Dort wird an den Pädagogischen Hochschulen in Feldkirch und Innsbruck ein Studiengang in der Lehrerausbildung angeboten, der auf das Unterrichten in einer gemeinsamen Schule für Zehn- bis 14-Jährige abzielt. Die Einführung dieser Schulart im Land steht kurz bevor und wird wissenschaftlich begleitet. 

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