Ex-Schulleiter prangern Missstände im Bildungssystem an

1.4.2019, 08:00 Uhr
Ex-Schulleiter prangern Missstände im Bildungssystem an

© Peter Steffen/dpa

Der Titel des Essays von Edwin Petek klingt sperrig: "Über schulpolitische Unschuld – Abwimmeln, antreiben oder anpassen? Strategisch-charakterologische Aspekte schulischen Führungshandelns". Doch Petek und seinem langjährigen Kollegen und Freund Siegfried Wohlmann geht es schlicht darum, diejenigen Missstände und unlösbaren Herausforderungen aufzuzeigen, die beide in mehreren Jahrzehnten als Schulleiter einer Grundschule erlebt haben. Und das sind einige.

Neu daran ist, dass Petek sein Essay aus Sicht eines Schulleiters geschrieben hat. Eine seltene Innenansicht, denn Schulleiter im Dienst plaudern in der Regel nicht aus dem Nähkästchen. Es sei denn, sie sind in einem Lehrerverband organisiert und sprechen in dieser Funktion. Und selbst dann hat die Offenheit enge Grenzen.

Kritikern drohen Sanktionen

Schulleiter oder Lehrer im Schuldienst können es sich nicht leisten, ihren Dienstherrn, den bayerischen Staat und seine Konzepte zu kritisieren oder auch nur öffentlich die eigene Meinung kundzutun. Das hat Konsequenzen. Je nach Position des verbeamteten Pädagogen wird der Abtrünnige zum Rapport in die zuständige Bezirksregierung oder ins Kultusministerium zitiert oder muss mit anderweitigen Sanktionen rechnen.

Petek und Wohlmann kennen diese Mechanismen nur zu gut, dennoch galten sie auch im Schuldienst als "kritische Geister", wie es Wohlmann ausdrückt. "Doch man hat meine sachliche Kritik stets ernst genommen", sagt er. Wohlmann hat in Freystadt im Landkreis Neumarkt jahrelang eine Grundschule mit rund 800 Schülern und etwa 50 Lehrkräften geleitet. Darüber hinaus ist und war er stellvertretender Landesvorsitzender des bayerischen Schulleitungsverbands – und damit geschützt.

Petek war als Rektor in Lauf an einer Grundschule mit rund 400 Schülern und etwa 30 Pädagogen tätig. Darüber hinaus engagiert er sich auch heute noch in der Lehrerfortbildung. Er war für die Ausbildung der Beratungslehrer zuständig. Petek sagt selbst, dass er ein Querkopf sei, der viel aneckte. Aus diesem Grund seien die Ergebnisse seiner Arbeit vom Dienstherrn oft in Zweifel gestellt worden.

"Grundsätzlich geändert hat sich an unserem Schulsystem seit den 50er Jahren ja kaum mehr etwas", sagt Petek. Gut, Handgreiflichkeiten gegenüber Schülern seien stark zurückgegangen, doch noch immer sei für das Schulwesen charakteristisch, dass es einer "wilhelminisch durchstrukturierten Hierarchie"gleiche, die jede Menge Widersprüche und Defizite in sich vereine und die das Management einer Schule zur echten Herausforderung mache. Auch, weil man in Krisensituationen als Schulleiter nicht mit der Rückendeckung des bayerischen Bildungsministeriums rechnen könne.

Schulleiter von Grund- und Mittelschulen seien mit so vielen Herausforderungen konfrontiert, die sie unter den realen Begebenheiten gar nicht meistern können, betonen die beiden Rektoren im Ruhestand.

Ex-Schulleiter prangern Missstände im Bildungssystem an

© Michael Matejka

Massiver Personalmangel

Als Beispiel nennen sie den massiven Personalmangel an den Grundschulen, der andererseits mit den Forderungen der Integration und der Inklusion sowie dem Ausbau der Digitalisierung kollidiere: "Es fehlen dazu einfach die Lehrkräfte, die mobile Reserve ist meist schon im November aufgebraucht."

Wie solle eine gelungene Integration von Flüchtlingskindern geschehen, wenn es zu wenig Lehrer gebe, fragen die beiden Rektoren – und es ist eine rhetorische Frage. Denn neben Kindern mit Migrationshintergrund, die Probleme mit der deutschen Sprache hätten, gebe es zahlreiche Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, erklärt Wohlmann. Hinzu kämen Inklusions-Kinder oder Kinder mit Lernschwächen wie Legasthenie oder Dyskalkulie. "Es ist nicht der einzelne Schüler, der vielleicht ein Problem hat. Es ist die große Zahl an Kindern mit ganz unterschiedlichen speziellen Bedürfnissen, die die Lehrkraft an die Grenzen ihrer Kraft bringen", sagt Petek.

Die Lösung sieht er, wie im Übrigen auch der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) in multiprofessionellen Teams, die gemeinsam unterrichten. "Schon im Tandem im Klassenzimmer zu sein, wäre eine große Erleichterung." Doch um eine so große Herausforderung wie die Inklusion an den Grund- und Mittelschulen voranzutreiben, braucht es nicht nur mehr Lehrkräfte, sondern auch die entsprechenden barrierefreien Räumlichkeiten. Auch hier gebe es große Defizite, sagen Petek und Wohlmann. Ein großer Teil der bayerischen Grundschulen sei massiv sanierungsbedürftig. Manche sanitären Anlagen eine echte Zumutung.

"Kaum einer will den Job noch"

Es fehlen die passenden Räumlichkeiten, Pädagogen, aber auch Verwaltungskräfte, die den Schulleitungen den Rücken freihalten. Diese sind Mangelware und manche Schulen suchen mittlerweile sogar vergeblich nach einem Schulleiter, "weil kaum einer, der sich auskennt, den Job noch machen will", bringt es Petek auf den Punkt.

Wenn Verwaltungskräfte an einer Grundschule vorhanden seien, dann lediglich stundenweise. Eine Entlastung für die Schulleitungen sei das nicht. Leitungsstunden für das Management der Schule und die Betreuung der Lehrerkollegen, der Mitarbeiter, fehlen.

"Unterrichtsausfall gibt es ja offiziell nicht", scherzt Wohlmann bitter und spielt damit auf die jahrelangen Kommentare aus dem bayerischen Kultusministerium an, dass sich zu Zeiten von Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) stets gegen Unterrichtsausfall an bayerischen Schulen verwehrt hatte. Auch der heutige Kultusminister Michael Piazolo nennt die Dinge nicht mehr so klar beim Namen, wie er es noch in seinen Zeiten in der Opposition als bildungspolitischer Sprecher der Freien Wähler getan hat.

Film statt Unterricht

Doch wenn zwei oder mehrere Klassen aufgrund des Personalmangels zusammengelegt werden müssen, und die Schüler einen Film schauen, sei das definitiv kein Unterricht, stellt Wohlmann fest.

Was nützten die Milliarden vom Bund für die Digitalisierung, wenn es keine geschulten Pädagogen gebe, die mit der neuen Technik umgehen können und den jungen Experten in den Klassenzimmern einen Sprung voraus sind? Aus Wohlmanns und Peteks Sicht müsste die Ausbildung der Lehrer dringend reformiert werden. Digitaler Unterricht müsste einen festen Platz im Lehramtsstudium haben, ebenso müssten Lehrer auch im Aufbau und der Administration von Computernetzwerken geschult werden.

Für den BLLV ist die Klage der Rektoren im Ruhestand nicht neu. Im Frühjahr 2019 ist eine bundesweite Forsa-Studie zur Situation von Schulleitungen erschienen. So sehen sich viele vor das unlösbare Problem gestellt, eine Fülle zusätzlicher Aufgaben ohne Personal, ohne finanzielle Mittel und ohne Freistellung bewältigen zu müssen, sagte BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. "Der Lehrermangel hat sich innerhalb eines Jahres deutlich verstärkt. Der Mangel ist kein Randphänomen, er ist bestimmend für die Schullandschaft geworden", betonte sie.

Die Zahlen sprechen Bände: Die größten Belastungsfaktoren für Schulleitungen sind aus Sicht der Befragten das stetig wachsende Aufgabenspektrum (91 Prozent), die steigenden Verwaltungsarbeiten (88 Prozent), dass Politiker bei ihren Entscheidungen den realen Schulalltag nicht ausreichend beachten (86 Prozent), mangelndes Zeitbudget (74 Prozent) und der personelle Engpass (72 Prozent).

Die Politik reagiere nicht angemessen genug auf die sich rasant verändernden Aufgaben moderner Schulleitungen, kritisierte Fleischmann. Der Beruf sei nicht mehr mit dem vor 50 Jahren vergleichbar. Schulen von heute erforderten Managementqualifikationen. "Dieser Tatsache werden weder die Ausbildung noch die Bezahlung gerecht."

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