Geschichte endet an Heiligabend

27.12.2015, 18:39 Uhr
Geschichte endet an Heiligabend

© Foto: Galster

Den ganzen Vormittag über kommen zahlreiche Kunden zu Gertrud Heidner und umarmen sie. Es fließen Tränen. Die Schwere des Augenblicks lässt sich kaum beschreiben. Melancholie, Traurigkeit, Fassungslosigkeit. Es sind viele Begriffe und jeder stimmt irgendwie.

„Geh zur Gertrud, die hat das schon“, das war ein gängiger Ausdruck, wenn man wieder einmal etwas brauchte, was es eben nicht überall im Supermarkt gab. Ihr Laden war auf überschaubarer Fläche beispielhaft vielseitig sortiert, erregte die Bewunderung auch fremder Besucher und Feriengäste. Jetzt tun sich ungewohnte Lücken in den Regalen auf.

Ulrike Blassmann aus Schlaifhausen ist eine der letzten Kundinnen, die am 24. Dezember noch schnell etwas im Laden besorgt. „Ich werde das Kaufhaus am See vermissen“, versucht sie zu scherzen und ist doch innerlich sehr bewegt. Das sei hier heute eine traurige Veranstaltung. Ihrer Meinung nach hätte die politische Gemeinde viel früher aktiv werden müssen. Hier werde viel zu kurzfristig gedacht. Der Laden werde den älteren Menschen fehlen. Und auch den Jüngeren, die sich dann sorgen müssten.

Dass sich der Laden nicht mehr halten kann, war in der Tat seit langem erkennbar. Anfang Juli lud die Gemeinde Leutenbach die Bürger zu einem Gespräch ins Rathaus ein. Es galt, Möglichkeiten für den Laden und das Gebäude auszuloten. Ein potenzieller Kaufinteressent stellte sich dabei vor, der auch für einen Vermieter des Ladens warb. So, wie der Interessent aus dem Nichts gekommen war, verschwand er auch wieder.

Keinen Investor gefunden

An einer zweiten Sitzung Mitte August nahm auch Anton Eckert, Kulturreferent des Landkreises, teil und zeigte mögliche unterstützende Lösungen auf. Es zeigte sich einmal mehr: Der Wunsch der Bevölkerung, den Laden zu erhalten, war groß. Letztlich suchte man gemeinsam einen Investor, aber der war nicht zu finden.

Am letzten Tag kauft auch Elisabeth Kraft aus Leutenbach noch einmal ein. „Wir sind einfach ganz traurig, dass dies heute der letzte Tag ist“, sagt sie und hat damit eigentlich alles ausgedrückt. Birgit Keiner aus Leutenbach geht nochmals nachdenklich durch den Laden. „Hier habe ich 14 wunderschöne Jahre verbracht. Wenn mich die Gertrud brauchte, war ich da“, sagt sie. Jeder kannte die sympathische Minijobberin an der Kasse. „Ja, hier war immer Bewegung“, lacht Gertrud Heidner kurz auf.

Jetzt gelte es nacheinander alles zu schließen: Post zurückführen, Zeitungen, Bäcker, Getränkelieferer und so weiter, wird sie wieder geschäftlich. Es sind viele Schritte rückwärts. Vor dem Haus zeigt Gertrud Heidner auf das letzte Schild im Schaufenster. Dort bedankt sie sich ein „für die jahrelange Treue und das große Vertrauen in die Glosn“.

Glosn, das war der Hausname — so nannte man schon den Gründer Johann Roth mit seinem „Kolonialladen und Metzgerei Roth“, den er in den 20er Jahren aufmachte. 1968 ist Gertrud Heidner dort in das Berufsleben eingestiegen, absolvierte eine Kaufmannslehre und eine Ausbildung als Metzgereifachverkäuferin.

Gut vorbereitet übernahm sie 1990 das Geschäft von ihrem Onkel Johann Kraft. „Ganz lange war es für mich ein Hobby, heute ist es ein Luxus, den ich mir leiste“, sagte sie vor kurzem. Sie hat die 60 Jahre im Leben überschritten, zollte dem hohen Aufwand im Geschäft Tribut. „Alle Leute finden es toll, dass es hier einen Dorfladen gibt, wo man das, was man in großen Lebensmittelketten auswärts vergessen hat, noch einkaufen kann“, sagte Gertrud Heidner bei einem Interview vor einem Jahr. „Aber nur vom Vergessenen können wir auf die Dauer nicht leben“, stellte sie trocken fest.

Auch darüber werden manche Einwohner jetzt nachdenken. Geschätzt wird etwas, wenn man es nicht mehr hat. Für den Dorfladen in Leutenbach wird es besonders zutreffen. Er war eine Art kleines Kommunikationszentrum. Man kaufte ein, traf diesen und jenen Bekannten zufällig für ein kleines Gespräch. Der Laden war Herzstück eines intakten Dorflebens. Gertrud Heidners Blick schweift über den Dorfweiher hinweg, hinauf zum Walberla. Sie dreht ein letztes Mal den Schlüssel im Schloss um. Der Dorfladen von Leutenbach, die Glosn, ist Geschichte.

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