Neunkirchen probt kleine Fußball-Revolution

24.4.2015, 11:00 Uhr
Neunkirchen probt kleine Fußball-Revolution

© Foto: Roland Huber

Bei bestem frühsommerlichen Wetter bevölkern zahlreiche Mütter einen Spielplatz, gelegen auf dem Sportgelände des TSV Neunkirchen. Sie sehen, wie ein paar Meter weiter der Trainer versucht, einer Gruppe von Kindern eine Übung zu erklären und Trikotleibchen zu verteilen. Von der Seite rollt ein Ball heran und erhält sofort große Aufmerksamkeit. Zwei Mann jagen dem Spielgerät hinterher und gesellen sich erst einige Sekunden später wieder zu ihren Mannschaftskameraden. Wochentägliche Normalität in den frühen Abendstunden überall im Landkreis. Am Brandbach läuft trotzdem grundlegendes anders.

Das liegt an Matthias Lochmann, der die G-Junioren seines Sohnes betreut und sich die Aufgabe mit Markus Rieker teilt. Auf dem Platz wird das Duo noch von zwei weiteren Vätern unterstützt. Sie teilen ihre Schützlinge im Alter zwischen fünf und sieben Jahren in maximal sechsköpfige Gruppen auf. Dahinter steht ein Entwicklungskonzept, das Lochmann am Lehrstuhl an zukünftige Sportlehrer weitergibt. Der ehemalige deutsche Hockeyspieler Horst Wein erarbeitete diesen den traditionellen Ausbildungsmethoden entgegenstehenden Ansatz bereits in den 1980er Jahren und exportierte seine Schule mit dem Spitznamen „Funino“ über Spanien in die ganze Welt.

Falsche Geometrie

„Viele Kinder verlieren den Spaß am Fußball und wenden sich frustriert ab. Das liegt insbesondere auch daran, dass sie im Spiel und im Training überfordert sind“, erklärt Matthias Lochmann. Die Geometrie der Spielfelder gebe bereits den falschen Rahmen vor. „Die gängigen Kleinfeldmaße sind für die Allerjüngsten immer noch zu groß. Das Gleiche gilt für die Tore. Beim Fünf-gegen-Fünf beziehungsweise Sechs-gegen-Sechs können sie in der klassischen Spielertraube gar keinen Überblick haben und so auch nicht das unmittelbare Wirken ihres Handelns erleben.“ Früh würden sich bei den Kickern feste Formen einprägen, die sie im Training und im Spiel von ihren ebenfalls überforderten Trainern vorgegeben bekommen. Weil sich alles am Spielergebnis orientiere, nehmen pro Team meistens zwei Akteure gar nicht am Geschehen teil, sondern bewachen das eigene Tor. Dahinter steckt die Logik eines Kleinkindes, die Lochmann auf ganz andere Weise nutzen möchte.

Die Übungen des 44-Jährigen, der von 2004 bis 2006 in der Nachwuchsabteilung des Bundesligisten Mainz 05 für die U15-Junioren verantwortlich war und die A-Lizenz besitzt, finden auf engem Raum von zehn mal zehn oder zehn mal 15 Metern statt. Beim Spiel Drei-gegen-Drei gibt es keinen Torwart, Angreifer sind gleichzeitig Verteidiger und es soll möglichst wenig Stillstand herrschen. Jeder Ballkontakt ist eine wichtige Erfahrung, jedes Tor ein positives Erlebnis, das im Bewusstsein hängen bleibt. „Ich bin Dompteur und Moderator“, sagt Lochmann, der schlaue Entscheidungen immer wieder lautstark lobt.

Denn beim Spielen auf vier Hütchentore (je zwei pro Mannschaft auf einer Linie oder über Kreuz liegend) mutet der Coach seinen Schülern durchaus schon anspruchsvollere Aufgaben zu, die bisher erst in den älteren Jugendjahrgängen zum Trainingsalltag gehören: „Mit der Zeit entsteht durch die Wiederholung solcher und ähnlicher Übungsformen unterbewusst die Fähigkeit, verschiedene Alternativen und freie Räume zu erkennen. Bei Richtungsänderungen wird die Motorik geschult. Der Lerneffekt im Schritt davor besteht darin, mit erhobenem Kopf zu spielen. Die Grundinstinkte für dieses intelligente Spielverständnis sind vorhanden, sie müssen nur stimuliert werden. Die falschen Reize werden mit Anleitungen wie ,Spiel doch ab‘ oder ,Lauf dich frei‘ gesetzt. Darunter kann sich kein Kind etwas vorstellen.“

Weg vom Ergebnisdenken

Auch beim Deutschen Fußballbund DFB haben sie Handlungsbedarf erkannt und bei den U9-Junioren die sogenannte Fair-Play-Liga eingeführt. Grundgedanke ist wie bei Horst Wein, das spielerische Miteinander in den Mittelpunkt zu rücken. Mit einer Verlagerung des Spielfeldes in die Platzmitte trägt der Verband dem in nicht seltenen Fällen negativen Einfluss übereifriger Trainer und Eltern, die am veralteten Ergebnisdenken hängen, Rechnung. Die Zuschauer verfolgen das Geschehen aus einigen Metern Abstand, die Betreuer agieren dafür aus einer gemeinsamen Coaching-Zone. Die oder einer der Trainer fällt nötige Regelentscheidungen von außen, einen Schiedsrichter gibt es nicht. „Das geht in die richtige Richtung. Wir befinden uns ja im steten Austausch“, freut sich Matthias Lochmann.

Der Wahl-Neunkirchener aus dem hessischen Groß-Gerau wünscht sich jedoch tiefgreifendere Änderungen. Das Motto: Noch weniger Wettkampfmodus und über die Spielvariante auf vier Tore den Trainingsalltag langfristig umstellen. „Auf den Jugendturnieren am Wochenende ist leicht zu erkennen, welche Teams sich mit spielerischen Elementen befasst haben und wo es nur ums Gewinnen geht. Oft dominieren einzelne Stars, die schon etwas weiter sind.“ Das Spiel dürfe nicht auf die wenigen Starken zugeschnitten sein, sondern müsse — selbst bei Profiklubs in der F- und E-Jugend — der Gesamtentwicklung dienen. Je höher das Niveau in der Breite, desto mehr profitiert auch die Spitze.

Die revolutionären Ideen beschränkten sich nicht nur auf den Kleinfeldbereich. „Wir haben beim Übergang zur D-Jugend die höchste Abbruchquote“, berichtet Lochmann und findet, die vor Jahren eingeführte Praxis mit der D7 als Vorstufe müsse noch ausgeweitet werden. „Es ist nicht altersgerecht und macht auch für eine U15-C-Jugend keinen Sinn, auf das ganze Feld zu gehen.“ Bis zum Elf-gegen-Elf soll sich der Nachwuchs über Etappen herantasten.

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