Von Reuth nach Japan — vielleicht für immer

17.10.2018, 13:55 Uhr
Von Reuth nach Japan — vielleicht für immer

© Udo Güldner

Derweil aber zwingen ihn die unbezahlbaren Mieten an seinem Uni-Standort Nürnberg, in Omas Besenkammer auszuweichen. Dennoch nimmt sich der junge Mann die Zeit für ein längeres Gespräch auf dem Balkon, dem zahlreiche Zigaretten zum Opfer fallen.

Nippon spielt aber erst einmal keine Rolle. Vielmehr ist es der über einjährige Aufenthalt Willetts in Chile, der die Neugier weckt. Den habe er eingeschoben, um nach den Strapazen der Oberstufe am Ehrenbürg-Gymnasium nicht sofort wieder im Lernstress zu versinken. "Ich wollte praktische Erfahrungen sammeln."

Dass ihm seine Spanisch-Kenntnisse aus dem Gymnasium Spardorf nichts genützt haben, das hat den Studenten dann doch erstaunt. In Chile sprächen alle viel zu schnell, die Grammatik sei auch ganz anders, ganz zu schweigen vom Wortschatz. "Es hieß, ich hörte mich an wie ein Conquistador", also wie ein spanischer Eroberer.

In großer Offenheit spricht Jonathan Malte Willett über seine Motivation, sich in Südamerika als freiwilliger Entwicklungshelfer um Kinder und Jugendliche zu kümmern, die mit geistigen Einschränkungen kämpfen: "Ich habe lange Jahre für meinen jüngeren Bruder gesorgt, der eine autistische Störung hat. Ich bin das gewöhnt."

Erfüllend und anstrengend

Zudem habe er bei der Offenen Behindertenarbeit in Erlangen als ehrenamtlicher Helfer Ausflüge organisiert und Gruppen betreut, damit die Angehörigen einmal einige Stunden entlastet würden. "Sonst bekommt man durch die dauernde Belastung irgendwann einen Nervenzusammenbruch."

In Santiago de Chile seien es erfüllende, aber auch sehr anstrengende Monate gewesen. "Wenn man die schlimmen Schicksale mitbekommen hat, war es schwer, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren." Wer dorthin ginge, um die Welt zu retten, sei von vornherein verloren. Mit zwei weiteren jugendlichen Freiwilligen wohnte Willett im Zentrum der Hauptstadt, die sich von europäischen Metropolen kaum unterscheidet. Außer man begibt sich in einen der weit draußen liegenden Vororte wie San Bernardo, wo sich die Schule befindet – umgeben von einem hohen Zaun sind dort etwa 200 Kinder von fünf bis 17 Jahren in vier Klassen untergebracht. "Bei näherer Betrachtung waren viele Kinder dort gar nicht behindert. Sie waren verhaltensauffällig, weil sie aus Elternhäusern in den Favelas oder den Siedlungen unter Plastikplanen kamen, in denen Alkohol und Gewalt alltäglich sind", so Jonathan Malte Willet.

Immer wieder seien die Kleinen mit blauen Flecken erschienen. In Willetts Plauderton schwingt gleichermaßen Mitleid und Resignation mit. Aber auch Zuversicht, dem einen oder anderen eine bessere Zukunft ermöglicht und erstmals menschliche Zuwendung gegeben zu haben. "Für viele ist die Schule eine Zuflucht."

"Es ging drunter und drüber"

Im Klassenzimmer war der Sohn der Forchheimer Schriftstellerin Tessa Korber dann als Assistent eingesetzt, half bei Lese- und Rechtsschreibschwäche und bei Aufmerksamkeitsdefiziten. "Oft ging es drunter und drüber. Dann brach es aus den Schülern heraus. Normalen Unterricht konnte man das nicht nennen."

Nach der Mittagszeit unterstützte er bei Hausaufgaben und organisierte Kurse jenseits des Zaunes. "Die viele Arbeit, das ständige Spanisch-Reden, das gab tierische Kopfschmerzen, bis man todmüde ins Bett fiel." Einmal gelang es, eine Reittherapie auf dem Exerzierplatz einer nahegelegenen Kaserne durchzuführen. "Weil eine der Schülerinnen die Tochter eines hochrangigen Militärs war."

Badewanne als Tisch

Als Willett von seinen "verrückten Erfahrungen" in seiner Wohngruppe in Santiago erzählt, merkt man, dass er hier in Forchheim nicht mehr glauben kann, dass er tatsächlich in einer Bruchbude gelebt hat, die nur noch vom Schmutz zusammengehalten wurde und im eisigen Winter ohne Heizung zum Leben im Bett zwang. "Die Dusche bestand aus einem Loch in der Wand. Eine umgedrehte Badewanne war der Tisch. Ich wohnte mit armen Studenten, einem schwulen Pärchen und einem ehemaligen russischen Schiffskoch unter einem Dach."

Ganz anders – nämlich todlangweilig – sei ein Ferienausflug nach Feuerland gewesen. 40 Stunden habe die Busfahrt gedauert, die wegen unpassierbarer Gletscher durch Argentinien führte. Ganz im Süden Chiles, wo einst Charles Darwin gelandet war, sei in der Einöde weit und breit nichts zu sehen gewesen.

Dass Jonathan Malte Willett kein weltfremder Träumer ist, zeigt sein ganz pragmatisches Vorgehen während des Studiums in Nürnberg: Noch schreibt er an seiner Bachelor-Arbeit, aber die "International Business Studies" haben es ihm angetan. Es gebe so viele verschiedene Kulturen, die er noch kennenzulernen wolle.

Eltern hatten Wahnsinnsangst

In Chile hat er damit angefangen und sich mit vielen Menschen unterhalten, um ihre Geschichte zu erfahren. Solch ein aufreibender Aufenthalt sei eine große Chance, mehr über andere und sich selbst zu erfahren. Seine Eltern hätten ihn ziehen lassen. "Auch wenn sie eine Wahnsinnsangst hatten, die sie mir aber nicht zeigen wollten." Die Trennung mache beide Seiten glücklich und traurig zugleich.

Nun lockt die Faszination des Fernen Ostens den eifrigen Leser japanischer Literatur. Ein Semester war er schon dort und fand ein Land, welches das genaue Gegenteil des emotionalen und offenen Chile ist.

In der Provinz Kansai habe er sich so wohlgefühlt wie nie in seinem Leben. "Seitdem ich wieder in Deutschland bin, fühle ich mich seltsam leer." Seine Eltern werden ihn wohl erneut ziehen lassen müssen. Für wie lange, weiß Willett noch nicht. Vielleicht aber für immer.

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