Aufwachen mit Johann Sebastian

30.6.2007, 00:00 Uhr
Aufwachen mit Johann Sebastian

Ich öffnete die Augen. Das heißt, ich glaubte sie zu öffnen. In meinem Blickfeld befanden sich Tausende von kleinen schwarzen Punkten. Dahinter war nichts als Weiß. Sollte ich in einem Vorraum vom Himmel angelangt sein?

In meinem Hirn bildete sich noch einmal jener kathedralartige Raumeindruck mit dem prophetischen Lichteinfall ab. Erklang da hinter dem bedrohlichen Sausen der Condoleezza nicht auch noch die Dorische Toccata des großen Johann Sebastian? Ich hatte diese Toccata am Ende meiner Schulzeit auf der Orgel gespielt. Als meine Orgelphase anfing, belächelten mich meine Schulkumpels, später fanden sie es cool. In der Trinity Church hatte ich damals geübt. In der Kirche, die trotz ihrer stattlichen Höhe gegen die Hochhäuser der Wall Street keine Chance hat.

Die Dorische war das Schwerste, was ich auf der Orgel spielen konnte. Seitdem habe ich nicht wieder gespielt. Es gab ja noch so viele andere Fähigkeiten zu entdecken, zum Beispiel mein Reden. Ich hangelte mich an meinem Leben entlang. Ich sah, wie ich mit meinem Kumpel Richie in Mario’s Pizza-Shop abspannte. Dann erkannte ich Renée, die aus der Ferne auf mich zukam und mir zärtlich ihren Arm um die Schultern legte. Noch konnte ich nicht identifizieren, wo und in welchem Zustand ich mich befand. Schließlich drang eine beruhigende Männerstimme an mein Ohr. «Sie hatten einen epileptischen Anfall. Außer ein paar blauen Flecken im Gesicht ist Ihnen nichts passiert. Können Sie mir Ihren Namen und Ihre Telefonnummer nennen?»

Das war nicht meine Sprache. Es musste Deutsch sein. Nun wusste ich jedenfalls, dass ich noch nicht vor der Himmelspforte stand. Ich lag auf einem dieser rollenden Krankenhausbetten an der Wand und hatte eines dieser grünen Hemden an. Und ich bemerkte, dass die Decke über mir aus unzähligen Akustikplatten bestand. Das hielt ich also für den Himmel! Zum Glück weilte ich noch unter den Lebenden! Es dauerte dennoch eine kleine Weile, bis ich meine Stimme fand und meinen Namen herausbrachte.

Meine Telefonnummer fügte sich erst nach längerem Überlegen und Probieren in die vertraute Ziffernfolge. Verdammt, nun dämmerte es mir, ich hatte die Warnungen meines Neurologie-Professors mal wieder in den Wind geschlagen! Viel Schlaf und wenig Alkohol war sein Gebot. Leute, davon konnte bisher in Fürth wirklich überhaupt nicht die Rede sein! Und nun hatte ich seit einigen Tagen auch noch mein Zentropil vergessen einzunehmen! Komisch, dabei war ich in den letzten Jahren mit diesem Lebensstil immer ganz erfolgreich gewesen. Ohne Anfall, meine ich. 

Als mich der Lastwagen am Times Square auf dem Zebrastreifen erfasste und zu Boden schleuderte, fühlte ich mich auf der Höhe meiner Jugend. Ein halbes Jahr fiel dann für mich aus. Und nun verfolgen mich die Folgen immer noch, sogar bis nach Deutschland. Das hatte man mir schon gleich nach der Operation gesagt, das mit den Spätfolgen.

«Sie sind hier in der Kopfklinik in Erlangen auf der neurologischen Station. Man hat Sie vom Fürther Klinikum hierhergebracht», fuhr die warme Männerstimme fort. «Wir werden gleich ein EEG ableiten, um zu untersuchen, ob noch große Anfallsherde bestehen.» Ich drehte meinen Kopf etwas zur Seite und erblickte den Burschen mit dieser Trost spendenden Sprechfähigkeit. Er war schlank, hatte volles Haar und dunkle Augen. Mann, sah der Typ gut aus!

Ich starrte ihn an. Mir kam Cliff in den Sinn. Er hatte dieselbe Statur und dieselbe Art zu sprechen. Wir waren zusammen im Footballteam der Highschool gewesen. Meist landeten wir auch gemeinsam in denselben Betten nach diesen ausschweifenden Partys. Leute, ist das schon ewig her! Aber Cliff war von allen der Beste. «Ihre Sachen hängen in einem Schließschrank. Ihren Epilepsieausweis haben wir gefunden.» Der Pfleger fuhr mich auf dem Bett durch einige lange, steril beleuchtete Gänge, hinein in einen kleinen Raum. Die Kopie eines mit Öl gemalten Blumenbildes hing an der Wand. In der Mitte des Raumes befand sich ein elektrisches Gerät mit einem Stuhl daneben. Ich sollte mich auf den Stuhl setzen. Dann bekam ich ein Netz über den Kopf gezogen und eine kleistrige Paste auf die Haare und die Kopfhaut geschmiert. Kleine Stöpsel wurden dort aufgesetzt. Jeder konnte erst nach mindestens drei Anläufen befestigt werden, denn keiner hielt auf Anhieb. Ich muss ausgesehen haben wie ein stacheliges Riesenreptil. Ali fiel mir spontan dazu ein.

Ich versuchte mich zu erinnern, was zuletzt passiert war. Da war diese ältere Dame gewesen. Ich sah die lachsfarbenen Tischdeckchen und den dampfenden Kaffee wieder vor mir. War ich dieser Frau nicht schon einmal begegnet? Wusste sie mehr über die Vergangenheit meiner Familie als ich? Oder hatte sie vielleicht irgendetwas durchschaut? Warum wollte sie überhaupt mein Alter wissen? Mein Hirn hielt ihre Gegenwart jedenfalls nicht länger aus. Doch, halt, Tante Berta konnte ja gar nicht so alt sein wie diese Frau! Als Tante meiner Mutter wäre sie natürlich zwei Generationen älter als ich, nicht nur eine. So an die 90 Jahre vielleicht.

Nun bekam ich Anweisungen, wie und wann ich zu atmen hatte, diese Prozedur, die ich früher schon ein paar Mal über mich ergehen lassen musste. Das Gedanken-Gewitter mit den Elektroschlägen in meinem Schädel hatte sich verzogen. Die Spuren seien nicht mehr allzu groß, beruhigte mich der Neurologe. Ich könne nun mit einem Taxi zurück nach Fürth fahren. Mein Pfleger mit den dunkelbraunen Augen fuhr mich auf dem Bett zurück zu den Schließschränken und gab mir den Schlüssel zu meinem Schrank. Ich werde Ali anrufen, dass er mich abholt, kam es mir in den Kopf. Als ich das Fach öffnete, schlug mir der unangenehme Geruch von Urin entgegen. Shit, das muss noch im Café passiert sein!

Während ich überlegte, wie ich an eine saubere Hose herankäme, meldete man mir, dass eine Frau mich sprechen wolle und vor der Station warte.