Der zentnerschwere Kampf um ein Stück Normalität

23.9.2006, 00:00 Uhr
Der zentnerschwere Kampf um ein Stück Normalität

Alexander Dzhyoyev (sprich: Dscheujef) begrüßt seinen Interviewpartner mit einem freundlichen, breiten Grinsen. Er bittet an einen kleinen, mit Kraftsport-Magazinen bedeckten Tisch in den Fitnessräumen des TSV Altenberg in der Oberasbacher Jahnturnhalle. Aufmerksam fixiert Dzhyoyev sein Gegenüber mit seinen dunklen Augen. Seine Arme und Beine wackeln ständig.

Der gebürtige Ukrainer leidet seit seiner Geburt am 15. Oktober 1984 in Kiew an dyskinetischer Cerebralparese, einer bleibenden, aber nicht unveränderlichen Bewegungs- und Haltungsstörung. Auf Grund einer zu kurzen Nabelschnur dauerte seine Entbindung fast 17 Stunden. Dzhyoyevs Gehirn blieb 40 Minuten lang ohne Sauerstoff.

Strohhalm zum Trinken

Die ukrainischen Ärzte gaben dem kleinen Alexander kaum Überlebenschancen. Seine Muskulatur würde sich niemals ausreichend entwickeln, lautete die Diagnose. Doch seine Eltern entschieden sich dagegen, das Kind in ein Heim zu geben, und pflegten es stattdessen von zu Hause aus. Mit Massagen, Krankengymnastik und Heilschlamm wurden erste Erfolge erzielt: Im Alter von drei Jahren begann Alexander zu krabbeln, mit sechs Jahren konnte er endlich seinen Kopf selbstständig halten. Bis heute kann Dzhyoyev nicht schreiben, zum Trinken braucht er einen Strohhalm.

1995 zog die Familie nach Deutschland. «Wir sind hauptsächlich wegen mir hierher gekommen“, sagt Dzhyoyev heute. «Meine Mutter wollte mir ein normales Leben bieten.“ In Nürnberg angekommen, wuchs bei dem Jugendlichen der Wunsch, die Behinderung mit Krafttraining zu bekämpfen und Muskulatur aufzubauen, um seine motorischen Fähigkeiten zu verbessern. «Mein Ziel war es, nicht wie ein Körperbehinderter auszusehen“, sagt Dzhyoyev.

Drei Monate lang versuchte der Ukrainer, in einem Fitnessstudio zu trainieren, blieb aber unbeachtet und allein. Erst der Kraftdreikampf-Trainer Wladimir Kondraschow kümmerte sich in seinem Heimstudio um den motivierten Jugendlichen. «Am 15. März 2000 hatte ich meine erste Trainingseinheit“, erinnert sich Dzhyoyev genau.

Zu Beginn schaffte es der 21-Jährige nicht einmal, die acht Kilogramm schwere Stange ohne Gewichte nach oben zu drücken. «Mir fehlten Kraft und Motorik“, erklärt Dzhyoyev. Nach einem halben Jahr intensiven Trainings drei Mal in der Woche stemmte er erstmals acht Kilogramm. Er begann besser zu laufen, und seine Bewegungen stabilisierten sich.

Nach dem Tod seines Trainers begann der junge Kraftsportler im Jahr 2001 beim 1. ASC Nürnberg Süd zu trainieren. «Ich halte mich gerne in Fitnessräumen auf“, sagt Dzhyoyev. Bei Süd ebenso wie beim TSV Altenberg hat Alex Freunde gefunden. Bei seiner Ausbildung zur Bürokraft in Rummelsberg trifft er fast nur andere Behinderte. Sein Sport dient ihm als gute Abwechslung. «Ich wollte zu den gesunden Menschen“, sagt Dzhyoyev. Fußball oder Leichtathletik mit anderen Behinderten kamen für ihn nie in Frage.

Heute ist der 21-Jährige der einzige körperbehinderte Deutsche, der an Kraftdreikampf-Wettkämpfen teilnimmt. Doch dorthin war es kein leichter Weg. Erst die Kraftsport-Abteilung des TSV Altenberg ermöglichte ihm einen Start ohne ärztliches Attest. Dzhyoyevs größter Wunsch, bei den Nicht-Behinderten teilzunehmen, ging im Dezember 2002 in Erfüllung. Mittlerweile kann der Publikumsliebling bei den Junioren bis 67,5 Kilogramm gut mithalten. «Wir sind alle sehr stolz, einen jungen Athleten wie Alex bei uns zu haben“, sagt TSV-Abteilungsleiter Harald Kraft. Gerne helfen Vereinskollegen beim Training oder fahren ihn zu den Wettkämpfen.

Erfahrung teilen

Alexander Dzhyoyev ist seinem Sport sehr dankbar: «Durch das Training hat sich meine Körperhaltung verbessert, so dass ich jetzt normal aussehe.“ Sein Ziel für die Zukunft ist es, seine Erfahrungen weiterzugeben. «Ich möchte Behinderte in einem Fitnessstudio trainieren“, sagt der 21-Jährige.

Nach dem Fototermin mit Kreuzheben und Kniebeugen sitzt Dzhyoyev wieder an dem kleinen Tisch mit den vielen Magazinen. Sein Körper hat aufgehört zu wackeln. «Nach einem guten Training verschwinden die Spastiken für kurze Zeit“, sagt er und grinst dabei von einem Ohr zum anderen.

Alexander Dzhyoyev betreut eine eigene Seite im Internet unter www.kraftdreikampf.com