Weltliteratur to go: Wenn Goethe auf Playmobil trifft

7.5.2016, 06:00 Uhr
Weltliteratur to go: Wenn Goethe auf Playmobil trifft

© Michael Sommer

Dass seine frustrierte Nora mal vom "Last-Minute-Christmas-Shopping" heimkommen würde, hätte sich Henrik Ibsen wohl nie träumen lassen. Nun steht sie mit einem Einkaufswagen voller quietschbunter Geschenke in ihrem Puppenheim – und das ist hier wörtlich zu nehmen.

Flapsig, doch voller hintergründigem Witz präsentiert Michael Sommer die Protagonisten: Nora Helmer, die junge Ehefrau des Anwalts Torvald Helmer. "Er ist älter, vernünftiger und verdient das Geld, was ihm eine natürliche Dominanz über sein kleines Eichhörnchen, Vögelchen, Püppchen gibt..." Sommer agiert wie ein Marionettenspieler. Das Publikum kann hie und da seine Hände sehen, die die Figuren bewegen, und es kann seine Stimme hören. Die kippt beim "Eichhörnchen, Vögelchen..." so gekonnt vom Sonoren in süßes Gezwitscher, dass allein die Klangfarbe binnen Sekunden klarstellt, wer in dieser Beziehung das Sagen hat.

Neun Minuten dauert der Film. Der Macher selbst nennt das die "Verhackstückung" von Weltliteratur. Möglich wird, was unmöglich scheint: Ulysses von James Joyce, 1000 Seiten Bewusstseinsstrom in 18 Minuten. Oder: Iphigenie auf Tauris. Im Intro tritt Dichterfürst Goethe verschüchtert einer Therapiegruppe bei: „Hallo erst mal, ich heiße Johann Wolfgang und ich bin heute zum ersten Mal hier.“ Goethe redet sich in Rage und stellt schließlich zornbebend klar, er habe "die Schnauze gestrichen voll von diesem pubertären Sturm-und-Drang-Kack", er schreibe jetzt mal ein "ordentliches Theaterstück".

"Korruptes kleines Filmchen"

Michael Sommer ist 39 Jahre alt, Literaturwissenschaftler, Theaterregisseur, Autor und Dramaturg. Er will "neue Medien nutzen, um alte Medien zu erobern". Und er ist überzeugt, „dass es allemal besser ist, ein korruptes kleines Filmchen aus einem literarischen Werk zu machen, das provokant, aber unterhaltsam die Intentionen des Autors strapaziert, als dass dasselbe auf dem Billyregal oben links verschimmelt“.

Das Leben im 21. Jahrhundert ist durchgetaktet. Der Mensch isst im Stehen, trinkt im Gehen... Wo bleibt da die Muße für einen Schmöker wie Fontanes Effi Briest, der für die Generation WhatsApp schon im ersten Satz (mit mehr als 70 Wörtern) eine blanke Zumutung sein muss? Für die Schule oder zum Angeben beim nächsten Date, behauptet Sommer also, brauche es von Literatur eine "knackige Kurzversion, die alles Wichtige enthält und sich mit bunten Bildern in unsere Großhirnrinde einbrennt".

Seit Anfang 2015 ergänzt er seine To-go-Reihe Woche für Woche um eine neue Produktion. Er dreht die Filme mit seinem Ensemble aus Playmobil-Männchen und mitunter auch Schlümpfen stets vormittags. "Da ist mein Blutzuckerspiegel noch in Ordnung, da kann ich mich konzentrieren." Drei bis vier DIN-A4-Seiten locker formulierter Text liegen dann neben der Kamera, sodass Sommer spicken kann, wenn er mal ins Stocken kommt. Mittlerweile unterstützt der Reclam-Verlag die Reihe mit ihren aktuell fast 16.000 Abonnenten und weit über eine Million Aufrufen.

Rainer Fliege, Seminarlehrer für Deutsch am Fürther Hardenberg-Gymnasium, hat "Sommers Weltliteratur to go" durch einen Schüler kennengelernt, der damit ein Referat über Eichendorffs Taugenichts mit Leben erfüllte, – und er war "total verblüfft". Der 50-Jährige, der immer wieder Schülertheatergruppen betreut, zieht seinen Hut vor dem, was Sommer tut. Denn: Der Mann schaffe es, Jugendlichen schwierige Stoffe unterhaltsam und mit Selbstironie nahezubringen. "So kriegt man die".

Fest steht: Sommer bekommt reichlich positives Feedback. Von dankbaren Schülern vor allem, die sich bei Prüfungen etwas leichter tun. Ihr Lob klingt dann so: "Vielen vielen Dank, Mann, du bist ein Weltretter." Oder so: "Top Abiturvorbereitung!"

„Du bist ein Weltretter“

Natürlich gibt es auch Kritiker. Leute, denen die Lektüre-Häppchen zu grell, zu oberflächlich sind. Nur: Dem Autor rundum gerecht zu werden, ist nicht Sommers Mission. "So ein Film kann keine Lektüre und keinen Theaterbesuch ersetzen. Er ist ein erster Schritt und soll Lust auf den Roman oder das Schauspiel machen."

Michael Sommer und die Firma geobra Brandstätter, die die Playmobil-Figuren herstellt, hatten nie Kontakt zueinander. Das versichern beide. Der Künstler kauft seine Darsteller selbst, gebraucht bei eBay oder neu in einem "Store" in seiner Nachbarschaft. 500 bis 600 Euro, schätzt er, hat er bisher in sein Ensemble investiert.

Großer Vorteil der kleinen Kollegen: Sie lassen sich leicht umbauen. Sommer nutzt das rege, verpasst einem Mann aus der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts kurzerhand den Umhang eines Piraten. Fertig ist der Gehrock.

Doch was ist mit den Dauersmileys im Gesicht der Protagonisten? Goethes Werther, der sich an einer unerwiderten Liebe verzweifelnd das Leben nimmt, hält die Pistole hier lächelnd an seine Schläfe. Und Büchners Lenz stolpert im Zustand fortschreitender geistiger Zerrüttung lächelnd durch die Vogesen. Irritierend, oder?

Sommer winkt ab. Das Schöne an den knallig-poppig-bunten Figuren sei doch, dass sie Projektionsflächen bleiben. Und dass die meisten Leute mit ihnen Positives assoziieren, weil sie als Kinder gern mit ihnen gespielt haben. Er selbst übrigens nicht so, er gehörte eher zur Lego-Fraktion.

Playmobil: "Wir freuen uns grundsätzlich..."

In der Firmenzentrale von Playmobil betrachtet man die Inszenierungen wohlwollend-distanziert: "Wir freuen uns grundsätzlich immer darüber, wenn unsere Playmobil-Figuren Kinder wie auch Erwachsene zu kreativen und künstlerischen Projekten inspirieren." Dies gelte für weltweit zahlreiche Video-Projekte und ebenso für den "bemerkenswerten Youtube-Kanal von Herrn Sommer".

Die Grenze der künstlerischen Freiheit sei prinzipiell stets dann erreicht, wenn das Image der Marke leiden könnte – etwa infolge extremistischer oder diskriminierender Inhalte. Nikos Papadopoulos beispielsweise, der mit den Zirndorfer Figuren Europas Krisen kommentiert, bekam Probleme. Wie der Grieche in einem Interview sagte, war der Firma der Kontext zu politisch. Papadopoulos’ Facebook-Seite heißt nun Plasticobilism (vorher: Playmobilism) und der Blogger stellt klar: Playmobil habe mit alldem nichts zu tun.

Rainer Fliege ackert sich mit seinen Zehntklässern gerade durch "Nathan der Weise". Zum Einstieg hat er seine Schüler ermuntert, sich die To-go-Fassung des "komplexen Werks" anzuschauen, in dem es zwar um Aufklärung geht, aber halt nur um die Epoche. Fliege denkt, dass der Film wie ein Türöffner wirkt. Denn Michael Sommers Zusammenfassungen zeigen seines Erachtens doch vor allem eines: „Hohe Literatur zu verstehen, kann manchmal auch ein Kinderspiel sein.

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