Wer bist du?

12.6.2007, 00:00 Uhr
Wer bist du?

© FN-Archiv

Es war ein gewöhnlicher Dienstagmorgen, als Theodors Radioapparat plötzlich mit ihm zu sprechen anfing.

«Weißt du eigentlich, wer du bist?»

Theodor erschrak so sehr, dass er sich verschluckte. Ein Stück des Marmeladentoasts steckte in seinem Hals.

«Wer ist da?», fragte er in die leere Küche.

«Ich», antwortete der Radioapparat. «Dein Radioapparat.»

Theodor legte den Rest des Toasts auf den Teller. Dann fragte er noch einmal, diesmal schon etwas leiser: «Wer bist du?»

«Das will ich von dir wissen!»

«Wieso?»

«Weil es gut ist, wenn man sich selbst erkennt. Dann macht man nicht den gleichen Quatsch wie die anderen. Dann macht man neuen Quatsch.»

Theodor erhob sich. Langsam dämmerte ihn, wer ihn an der Nase herumführte. Hatte er nicht neulich mit seinem Nachbarn Zank gehabt, Zank wegen einer Topfpflanze, die im Flur des mehrstöckigen Hauses verendet war? Verendet, obwohl Theodor mit dem Gießen dran war.

«Ich bin nicht dein Nachbar», sagte der Radioapparat.

«Woher weißt du . . .?» Theodor erhob sich und schlich um das unscheinbare Gerät herum, das er bei einem bekannten Kaffeefabrikanten günstig erworben hatte. Er drehte an den Knöpfen des Apparats. Vielleicht war er bei einem Selbstfindungsseminar gelandet? Einer aufgezeichneten Übertragung direkt aus der Volkshochschule?

«Ich bin kein Seminarleiter», gab der Radioapparat zurück. «Außerdem kannst du an mir herumdrehen, soviel du willst. Auch wenn du den Stecker ziehst . . .»

Theodor zog den Stecker. Für einen Moment war Ruhe. Theodor sog die Stille in sich hinein. Wurde er langsam verrückt? War der Job in den letzten Jahren doch zu viel gewesen?

Dann fing der Apparat wieder zu plappern an. «Das war aber nicht nett von dir. Als Strafe verrate ich dir jetzt nicht, wer du bist.»

«Wer du bist, wer du bist», äffte Theodor die merkwürdige Stimme nach. Eine Stimme, die sich über ihn lustig machte. «Es ist egal, wer ich bin. Das ist total egal.»

«Na gut, dann kann ich ja wieder den Bericht über den Knastaufenthalt von Paris Hilton bringen.»

«Nein warte, warum stellst du mir diese Fragen?»

«Ich stelle sie allen. Nur die wenigsten wollen sie hören.»

«Ach, jetzt verstehe ich, du willst mir etwas verkaufen und hast dich in meinen Radio eingeklinkt.»

«Ich will dir gar nichts verkaufen. Und vom Einklinken verstehe ich überhaupt nichts.»

Theodor wurde ungeduldig. «Du erschreckst mich am frühen Morgen und willst mir nicht einmal was verkaufen. Du stellst Fragen, aber gibst keine Antworten. Und du drohst mir mit Sendungen, die niemanden interessieren.»

«Wieso niemanden interessieren? Du machst diese Sendungen doch, wenn ich mich nicht täusche.»

Der Radioapparat war zum Verzweifeln. «Das Leben ist doch kein Wunschkonzert», gab Theodor zurück.

«Doch, das ist es», antwortete das Radio. «Man muss sich einfach nur trauen.»

Dieser Radioapparat war schlimm. Schlimmer als Monika, die auch immer Recht haben wollte - und dummerweise tatsächlich auch sehr oft Recht hatte. Vor allem, wenn es um Fragen ging, die so einfach und schwierig waren wie diese eine Frage, die Theodor nicht mehr losließ. Er rannte ins Schlafzimmer und weckte Monika.

«Liebling, aufwachen! Der Radioapparat spricht mit mir. Er hat mich gefragt, wer ich bin?»

«Wer du bist?», sagte sie gähnend. «Das kann ich nach dem Aufwachen noch nicht beantworten . . .»

Theodor schwieg. Dann sah er aus dem Fenster im Schlafzimmer. Er blickte in einen Himmel, der weit war. Weit, voller Wolken, die sich beinahe nicht vom Fleck rührten. Wer war er? Gab es das überhaupt: eine Identität, ein eindeutiges Bestimmen des Standorts? Früher hatte er sich immer gewünscht, ein Arzt zu werden. Ein Tierarzt.

Schließlich lief Theodor in die Küche zurück und stellte sich vor den kleinen Kasten. «Hallo?» sagte er.

«Hallo», antwortete das Radio und unterbrach das Interview mit der Hotelerbin. «Weißt du inzwischen mehr?»

Theodor zögerte. Dann antwortete er pikiert. «Ich weiß eigentlich nicht, was dich diese Dinge angehen.»

«Aha», sagte der Apparat zufrieden. «Du hast also was entdeckt. Nun gut, dann verrate ich dir jetzt die Lösung.»