Erinnerungen an den Kampf um Döckingen

26.4.2015, 16:42 Uhr
Erinnerungen an den Kampf um Döckingen

„Als die Alliierten 1945 von Westen her immer näher rückten und eine Kapitulation unserer Wehrmacht nicht stattfand, wussten wir, dass wir auch in Döckingen unsere Feinde zu Gesicht bekommen werden. Im Februar 1945 bekam ich auf meinem Hof in Döckingen die Abordnung einer Funkeinheit zugeteilt. Im Laufe ihrer Anwesenheit teilten mir die Soldaten mit, dass gerade hier ein guter Funkempfang wäre. Im März machte dann auch noch der Bürgermeister hier Quartier, und es war klar, dass es zur Verteidigung von Döckingen kommen wird.

Ich hatte sehr viele Sorgen, denn die Front rückte immer näher an unseren Ort. Granaten wurden an mehreren Orten gestapelt und Panzersperren aufgebaut. Nach einigen Wochen gab es keinen Strom, also kein Licht und Radio und somit keine Kriegsinformationen mehr. Der Rückzug unserer Wehrmacht mit allen Formationen vollzog sich zum Teil schon einige Tage und Nächte lang auf der Straße von Ursheim her.

Am 19. April kamen Offiziere ins Quartier, die aber tags darauf weiterfuhren. Tag und Nacht lief der Rückzug. Am 23. April frühmorgens klopfte jemand mit den Worten ,ein alter müder Zahlmeister bittet um ein Lager‘, an meinem Schlafzimmerfester. Er hatte auch einen Begleiter dabei. Sie teilten mir mit, dass sie zu Fuß von Gunzenhausen kämen und sich ausruhen müssten, um weiterlaufen zu können, und dass der Feind bereits in Merkendorf wäre. Am Morgen gab mir der alte Herr den Rat, im Ernstfall mit allen meinen Hausbewohnern in den Keller zu gehen, denn da wären wir sicher. Wir waren neun Personen – meine Eltern, meine vierjährige Tochter, ich, eine Frau aus dem Saarland mit drei Kindern und ein russischer Arbeiter. Mein Mann war damals im Krieg.

Eine Granate traf die Scheune

Ein junger Soldat stellte in meiner Scheune ein Pferdefuhrwerk unter. Nachmittags gegen vier Uhr ging ein Geschrei los: ,Sie kommen, sie kommen!‘ Aus der Ferne war ein Gedröhne zu hören. Die alliierten Panzer fuhren den Berg von Hechlingen nach Schlittenhart hoch. Sie wollten gleich nach Döckingen hinunter, aber den Ortseingang, den wir übersehen konnten, hatte die SS gesperrt. Die rückziehende Wehrmacht musste den alten Wemdinger Weg passieren, um zur Straße nach Hagau zu kommen. Ein feindlicher Aufklärer kreiste ständig über Döckingen. Eine Granate schlug im Dorf ein und tötete einen Soldaten. Wir flüchteten alle in den Keller. Plötzlich ein zweiter Schlag. Der traf meine Scheune und die Dachziegel flogen hinten und vorne vom Dach. Eine weitere Granate explodierte auf dem Scheunenboden und tötete einen Wehrmachtsgaul. Die Fenster am Haus zur Hofseite gingen alle zu Bruch. In den nächsten Minuten kamen sechs Soldaten und drei Personen vom Nachbarhaus zu uns in den Keller gestürmt. So waren wir nun 17 Personen. Die Schießerei der Artillerie beiderseits ging immer weiter. Der Feind musste wieder zurück nach Schlittenhart, denn unsere Artillerie beschoss ständig die Straße von Döckingen nach Schlittenhart – vom Ohbuck her, vom Hahnenberg und vom Voribuck rüber.

Die SS war im Ort. Bei Dunkelheit verließen uns die Soldaten mit dem Hinweis, keine weißen Fahnen zu hissen. Um ungefähr zehn Uhr brachten zwei SS-Männer einen schwerverwundeten Soldaten zu uns, mit der Bitte, ihn zu verbinden und den Amerikanern zu übergeben. Wir machten ihm im Wohnzimmer ein Lager zurecht. Meine Eltern blieben bei ihm und umsorgten ihn bei Kerzenlicht, da er einen Durchschuss in der rechten Bauchseite hatte. Diese Schmerzensschreie zwei Stunden lang waren schrecklich und ich werde sie nie vergessen. Er ist in der Nacht in meinem Wohnzimmer verblutet. Sein Name: Johann Würstlein, geboren am 6. Februar 1923 in Gleusdorf, gefallen am 23. April 1945 in Döckingen am Hahnenkamm. ,Fern der Heimat‘ in treuester Pflicht’, bin ich gefallen, vergesst mich nicht!‘ Das ist die Inschrift auf dem Bild, das ich von ihm besitze.

Im Keller versteckt

Der Nahkampf der Infanterie fand zwischen der Straße von Schlittenhart her und der Herdstraße auf dem Feld hinter dem Dorf statt. Teile unserer Infanterie zogen sich von dort durch meinen Garten und Erdingers Hof zurück nach außerhalb des Dorfes. Vor Mitternacht kam der Feind mit Taschenlampen und Gewehren im Anschlag in unser Haus, sie durchsuchten alles und verriegelten die Kellertür. Im Haus warfen sie aus allen Schränken den Inhalt raus. Was versperrt war, wurde gewaltsam aufgebrochen. Über unseren Köpfen war das ein fürchterlicher Radau und Gepolter! Wir wussten, die Amerikaner sind nun da!
In dieser Nacht wurde das ganze Dorf besetzt. Am andern Vormittag rüttelte ich an der Kellertür und wir durften nach oben. Was wir da dann an feindlichen Kriegsfahrzeugen und Soldaten sahen! Wir steckten eine weiße Fahne an den Gartenzaun und ich ging in mein Wohnzimmer. Umringt von Amerikanern, prägte ich mir das Bild des gefallenen Soldaten ein, das ich nie vergessen werde. Dann kam ein Kommandoschrei ,Ihr alle raus! Ihr alle raus!‘ Wir gingen mit notwendigen Sachen ins übernächste Haus zum Linsenwenger (Hausname). Mit uns war das Wohnzimmer voll Nachbarn. Zwei Tage und Nächte mussten wir auf dem blanken Fußboden liegen. Acht Tage war Döckingen damals vogelfrei! Der Feind konnte machen, was er wollte, und tat es auch zum Teil. Ein Pole, der beim Schürer (Hausname Prosel) in Arbeit war, wurde vom Feind als Kommissar eingesetzt.

Was hatte der Feind damals an verübter Gewalt, Demütigungen und an schlechtem Ansehen hinterlassen. Alsbald kam aber wieder Ordnung ins Dorf. Karl Leitel wurde Bürgermeister. Gefallen waren 13 Soldaten, die auf unserem Friedhof begraben wurden. Ihre Gräber werden vorbildlich gepflegt. Ein neunjähriges Mädchen, tödlich von einem Granatsplitter getroffen, war für die Familie Schmidt ein schwerer Verlust. Dazu kam der Verlust einiger Amerikaner. Alle zusammen waren ein irrsinnig großes Opfer für unser Dorf.
In unserer Umgebung wurde kein Dorf und keine Stadt verteidigt – nur Döckingen. Ich frage mich warum? Die Wehrmacht brauchte Abstand und Zeitgewinn, um beim Rückzug über die Donau zu kommen, soll der Hauptgrund gewesen sein. Ob es noch andere Gründe gab? Wer weiß es.“

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