Hercules: Wie aus dem Heros ein Zwerg wurde

12.7.2017, 05:59 Uhr
Hercules: Wie aus dem Heros ein Zwerg wurde

© Foto: Deutsche Stadtreklame GmbH

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die einstige "Velocipedfabrik Carl Marschütz & Co." viele Herren kommen und gehen sehen. Die Marke Hercules gibt es zwar nach wie vor, doch der Firmensitz liegt nun in Köln. Nach einer ganzen Reihe von Eigentümerwechseln erwarb im Jahr 2014 die Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG) die Rechte. Die Komponenten kommen zum größten Teil aus Asien und werden überwiegend in Ungarn montiert.

In den Jahrzehnten zuvor hatte eine ganze Reihe von Investoren versucht, dem einst auch Lkw, Pkw, Motorräder und Kleinkrafträder produzierenden Konzern wieder zu wirtschaftlicher Blüte zu verhelfen. Der fränkische Hustenbonbon- und Süßwaren-Hersteller Carl Soldan ist ebenso darunter wie Max Grundig, dessen Vater als Meister bei Hercules arbeitete. Später wechselt der Zweirad-Hersteller zu Fichtel & Sachs und zieht um in die Nopitschstraße, auf das Gelände der ehemaligen Victoria-Werke – ein weiterer fränkischer Zweiradproduzent, der in der Nachkriegszeit in Schwierigkeiten gerät und schließlich von Hercules übernommen wird.

Der schleichende Niedergang von Hercules beginnt freilich schon viel früher, nämlich als Firmengründer Carl Marschütz im August 1938 von den Nationalsozialisten enteignet und sein Unternehmen "arisiert" wird. Auf den letzten Drücker, im Sommer 1941 und damit wenige Monate vor dem Beginn der Deportationen in die Vernichtungslager, flüchtet der jüdische Industrielle in die USA. Darüber hinaus wird der größte Teil des Hercules-Werks durch die Luftangriffe auf Nürnberg während des Zweiten Weltkriegs zerstört.

Bis zu diesem Einschnitt hatten Marschütz und andere Unternehmer-Persönlichkeiten wie die ebenfalls jüdischen Mitbürger Max Frankenburger und Max Ottenstein Nürnberg zum Zentrum der bayerischen Zweiradproduktion gemacht. Um 1900 herum stammen vier von fünf Rädern im Freistaat aus Werkhallen der aufstrebenden fränkischen Industriestadt. 10 000 Menschen gibt die Branche in jenen Tagen Lohn und Brot.

Marschütz’ Vision ist das Zweirad für alle, ein Volksfahrrad gewissermaßen. Dazu gründet er mit gerade mal 22 Jahren die erste Fahrradfabrik Nürnbergs, nach "Express" im oberpfälzischen Neumarkt die zweitälteste auf dem gesamten europäischen Kontinent. Anfangs baut der Fahrrad-Enthusiast mit zehn Arbeitern Hochräder, doch mit dem technischen Sprung zum Niederrad entwickelt sich der Drahtesel zum Massenverkehrsmittel.

Das Unternehmen wächst, firmiert ab 1887 als "Nürnberger Velozipedfabrik Hercules" und muss schon ein Jahr später aus Platzgründen von der Bleichstraße in die Fürther Straße umziehen. Die Belegschaft wächst auf 250 Arbeiter. Das Markenzeichen des prosperierenden Unternehmens ist der kraftstrotzende griechische Halbgott. Viele Jahre lang ziert die muskulöse Gestalt des Hercules auch die vorderen Schutzbleche der Nürnberger Velos.

Der rastlose Firmengründer sprüht vor Ideen und lässt neben den verschiedensten Spielarten von Fahrrädern wie Droschkenräder für zwei Personen oder Gepäckdreiräder unter anderem auch Autos und Lastwagen mit Elektroantrieb entwickeln. Und damit die Menschen den Umgang mit den neuen Gefährten sicher erlernen können, eröffnet Marschütz im Jahr 1899 unweit des Platzes, an dem heute das Nürnberger Schauspielhaus steht, das Hercules-Velodrom.

Nach dem Zweiten Weltkrieg liegt Hercules zwar am Boden, doch schnell krempeln die Mitarbeiter die Ärmel hoch, beginnen 1946 wieder mit der Fahrrad- und zwei Jahre später auch mit der Motorradproduktion. Auch in der Ära nach Carl Marschütz glänzt Hercules mit zahlreichen Produktinnovationen, zum Beispiel mit einem Mofa mit Elektroantrieb im Jahr 1973 oder zwölf Jahre später mit dem Prototypen eines Pedelec mit Nabenmotor und einer in den Gepäckträger integrierten Batterie.

Skurriles Reitrad war ein Flop

Hercules: Wie aus dem Heros ein Zwerg wurde

© Foto: Harald Sippel

Allerdings leistet sich der Hersteller auch eine ganze Reihe von Flops. Der skurrilste davon ist sicherlich das "Cavallo", ein in den 1970er Jahren auf den Markt gebrachtes "Reitrad", auf dem der Fahrer eine fast hüpfende Auf- und Abwärtsbewegung vollführt – ähnlich dem Bewegungsmuster, das ein Reiter auf einem Pferd zeigt. Kaum jemand will die Entwicklung des Maschinenbau-Ingenieurs Hans Günter Bals haben, am Ende werden die Restbestände des "Cavallo", das heute ein begehrtes Sammlerobjekt ist, an die Mitarbeiter zum Stückpreis von 100 Mark verscherbelt.

Die einst so glanzvolle Nürnberger Traditionsmarke wiederum begibt sich auf Wanderschaft, zieht zunächst nach Neuhof an der Zenn und dann nach Schweinfurt um. Die Belegschaft schrumpft auf zuletzt gerade mal 35 Mitarbeiter. 1995/96 erwirbt die niederländische ATAG Cycle Group die Fahrradsparte des Herstellers und verkauft die Marke 2014 an die eingangs erwähnte ZEG. 2016 feiert Hercules sein 130-jähriges Bestehen, an Nürnberg freilich geht das Jubiläum weitgehend spurlos vorüber.

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