In Nürnberg steht ein Stück der Mauer und niemand weiß es

3.10.2015, 17:25 Uhr
In Nürnberg steht ein Stück der Mauer und niemand weiß es

© Ralf Rödel

Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu besichtigen. Achtlos laufen Hunderte Nürnberger an ihr vorbei. Die Köpfe rot, der Schweiß rinnt ihnen vom Gesicht, der Blick ist starr geradeaus gerichtet: Ein toller Feiertag ist das für Nürnbergs größtes Mauerstück, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung.

Ende 2009 wurde das Mauerwerk auf dem Hallplatz aufgestellt. Eine kurze Umfrage dazu unter den Spaziergängern in der Innenstadt beginnt stets mit einem Kopfschütteln: Kennen Sie dieses Betonstück dort drüben?

Rupert Biber geht es so. Mit seinem Fahrrad lehnt er vis-a-vis dem einstigen Symbol der deutschen Teilung. Nein, bekennt er lächelnd, das sei ihm so richtig noch nie aufgefallen, obwohl er hier schon öfter vorbeikommt. Aber ob es zwingend ein Mahnmal brauche? „Die Einheit sollte alltäglich sein. Wir waren vorher ein Volk und wir sind es hinterher auch wieder gewesen.“

Teilung sieht er höchstens noch im Fußball. „Dort würde ich mir schon mal die eine oder andere Mannschaft aus dem ehemaligen Osten in der Bundesliga wünschen.“

Gestiftet wurde das knallbunte Stück aus der Berliner Mauer von der Bild-Zeitung. In der Regel wurden die Betonteile in den Landeshauptstädten aufgestellt. Nürnberg bekam den Vorzug gegenüber München, weil sich überdurchschnittlich viele Vertriebene und DDR-Flüchtlinge in der Stadt angesiedelt haben.

Dem Mauerstück direkt gegenüber liegt das Restaurant Ginger. Die noch recht jungen Bedienungen staunen, wenn man ihnen erzählt, was genau sie dort vor ihrem Fenster stehen haben. Für die 21-jährige Kellnerin Jessica Pursche jedoch ein passender Zufall, ihre Eltern waren einst vor der Wende über Polen in die BRD geflohen. „Sie haben sich mit einem Dart-Pfeil vor eine Deutschlandkarte gestellt und weil er in Nürnberg gelandet ist, bin ich also hier geboren.“

Grau und schmucklos

Ein älterer Herr bleibt stehen, betrachtet den Koloss: Von der einen Seite farbenfroh anzusehen, die Rückseite ist grau und schmucklos. Er habe viele Jahre Pakete in den ehemaligen Osten geschickt, und irgendwann dann durfte er die Verwandtschaft dort auch besuchen.

„Alles war vorgeschrieben. Man brauchte eine Einladung und Begründung für die Reise, dann musste man sich anmelden und später wieder abmelden, die Dauer des Aufenthaltes war natürlich begrenzt.“

Zur Einweihung des Mahnmals vor fünf Jahren, da hatte der Oberbürgermeister noch von der schönsten Luftverschmutzung aller Zeiten gesprochen, und damit den Besuch der neuen Bundesbürger gemeint. Das Eintreffen der kilometerlangen Trabbi-Kolonnen hat sich auch bei Michaela Hundacker eingeprägt. Sie stammt aus Kulmbach und kann sich noch gut an die leer gekauften Regale in den Supermärkten erinnern. Für Freundin Claudia Döcker ist „Wind of Change“, die Scorpions-Ballade, immer noch das Symbol für die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten.

Ulrike Brenneis und Claus Eichner stehen nur wenige Meter entfernt vom Stück der Mauer, aber an diesem Tag der Deutschen Einheit haben sie beide dafür so gar keinen Blick. Sie sind, wie viele andere heute, wegen des Stadtlaufs in die Innenstadt gekommen. Die Strecke führt an diesem symbolträchtigen Tag direkt am Hallplatz vorbei, wenn sie wollten, könnten sie die Mauer berühren. Wollen sie aber nicht, ihre Konzentration ist starr nach vorne gerichtet, es sind die letzten Meter vor dem Zieleinlauf. Und so kommt es, dass an diesem geschichtsträchtigen Feiertag Hunderte Menschen an Nürnbergs Mauerstück vorbeiziehen und nichts davon wissen.

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