Milliardengeschäft: Warum Lernhilfe Ungleichheit fördert

23.2.2018, 05:24 Uhr
Milliardengeschäft: Warum Lernhilfe Ungleichheit fördert

© Uli Deck/dpa

Seit über 20 Jahren hilft Michael Rackl Kindern und Jugendlichen auf die Sprünge, die Probleme in Mathematik haben. Zusammen mit seiner Frau betreibt der gelernte Diplom-Kaufmann ein Nachhilfestudio in Neumarkt in der Oberpfalz und kann nicht über Arbeitsmangel klagen. "Vielen Eltern muss ich absagen, auch für das kommende Schuljahr bin ich bereits komplett ausgebucht", sagt der "Mathe-Michi", wie der 53-Jährige in Schülerkreisen genannt wird.

Über 150 Schüler üben bei Rackl in kleinen Gruppen den Sinus- und Kosinussatz im Dreieck oder die natürliche Exponential- und Logarithmusfunktion, nur ein Fünftel davon steht in Mathe auf einem Vierer oder Fünfer, "Wir haben mehr gute als schlechte Schüler. Einige schreiben sogar regelmäßig Einser", erzählt Rackl. Manche Eltern würden alles dafür tun, damit ihr Kind ein möglichst gutes Abiturzeugnis erhält.

Viele Eltern meinen, dass die Schule immer mehr auf die Familien abwälzt, und Experten bestätigen diese Einschätzung: „Der Nachhilfe-Boom ist die Begleiterscheinung eines Schulsystems, das die Kinder allein lässt mit dem, was sie nicht verstanden haben“, bilanziert Professor Klaus Klemm, der als Co-Autor an zwei Studien zur Nachhilfe in Deutschland mitgewirkt hat. 2010 und 2016 hatte die Bertelsmann-Stiftung diese Studien veröffentlicht, und beide Male bezeichneten die Verantwortlichen die Ergebnisse als "alarmierend".

Als negativen Effekt fürchten die Fachleute vor allem die Entstehung einer eigenen privaten Unterstützungskultur parallel zu den öffentlichen Schulen – und damit ein Zweiklassensystem in der Schulbildung. Denn privater Zusatzunterricht ist teuer. Laut Statistischem Bundesamt geben Eltern im Schnitt 53 Euro monatlich pro Kind für Nachhilfe aus, manche Familien investieren jedoch ein Mehrfaches davon in den Nachwuchs.

"Obwohl der Schulerfolg in Deutschland besonders stark mit der sozialen Herkunft korreliert, bekommen Kinder höherer Schichten die meiste Nachhilfe", lautet die Bilanz einer anderen Studie, die die Hans-Böckler-Stiftung im vergangenen Jahr präsentierte. Angehörige der Mittelschicht seien häufig von Abstiegsängsten geplagt, die sie auf ihren Nachwuchs projizieren. Die Folge: Jedes Jahr wird bundesweit über eine Milliarde Euro für Nachhilfestunden ausgegeben.

Eingebettet sei diese Entwicklung in einen allgemeinen Trend zu "Kommerzialisierung und Privatisierung an den Rändern der Bildungslandschaft", schreiben die Autoren der Studie. Laut den Umfragen von Professor Klaus Birkelbach und Professor Rolf Dobischat nehmen 13 Prozent der Kinder aus armen Elternhäusern, die weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben, bezahlte Nachhilfestunden in Anspruch. In der Mittelschicht dagegen sind es um die 20 Prozent, und bei Familien, die mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens verdienen, kümmert sich um knapp jedes dritte Kind ein Nachhilfelehrer.

"Die Schere geht auseinander"

"Die Schere geht immer weiter auseinander", sagt Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), für die diese Zahlen auch ein "Armutszeugnis für die Bildungspolitik in Bayern" sind. Schuld an der Misere sei mit Sicherheit nicht der einzelne Lehrer ("Viele Kolleginnen und Kollegen reißen sich einen Haxen für ihre Schüler aus"), vielmehr gebe es einige grundsätzliche Fehler im System, etwa die nach Fleischmanns Ansicht viel zu frühe Selektion der Schüler in der vierten Jahrgangsstufe.

In ihrer Zeit als Grundschullehrerin habe sie Kinder erlebt, die am Tag vor der Schulaufgabe noch alles gekonnt hatten und dann aus Angst vor Misserfolg völlig blockierten, erzählt die BLLV-Präsidentin. Die Eltern wollten zwar nur das Beste für ihr Kind, doch der permanente Leistungsdruck vergälle vielen Schülern den Spaß an der Schule und am Lernen.

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