1. Juni 1968: Großstadt im Vorort

1.6.2018, 07:00 Uhr
1. Juni 1968: Großstadt im Vorort

© Ulrich

Mit dem Bau der Wohnanlage am Entengraben bei Reichelsdorf – eine der interessantesten ihrer Art in Europa – wird es ernst. In 20monatiger Bauzeit entstehen 500 Wohnungen in Häusern, die durch ihre ringförmige Anordnung und durch die verschiedene Höhengliederung dem Hang über dem Regnitztal eine „Skyline“ geben, die nichts mehr mit dem Vorortscharakter vergangener Jahrzehnte gemein hat, sondern vom modernen Bauen und vom angenehmen Wohnen zeugt.

Rund 60 Millionen Mark kostet fürs erste die „kleine Stadt“, die Professor Gerhard G. Dittrich entworfen hat und die zum größten Teil in Fertigbauweise mit Großplatten errichtet wird.

Nachdem schon vor einem Jahr mit dem Holzeinschlag der Bauplatz in der Nähe des Reichelsdorfer Friedhofes markiert worden waren, konnten inzwischen die Erdarbeiten nahezu abgeschlossen werden. Wo früher Föhren standen, gähnt jetzt ein tiefes Loch, in dem die Baumaschinen lärmen und Lastwagen rollen. Bereits in der Woche nach Pfingsten – am 4. Juni – beginnt der Bau der Fundamente, Keller und Erdgeschosse einer Siedlung, mit der die Bayerische Versicherungskammer als Bauherr abermals städtebauliche Akzente in Nürnberg setzt.

Neben dem äußeren Bild – vom Grün des Landschaftsschutzgebietes umgebene weiße Gebäude, die bis zu 60 Meter hochragen und deren Fassaden kräftige Farbtupfer bekommen – überraschen die architektonischen Einfälle im Inneren der Anlage: es gibt keine sichtbaren Straßen mehr. Die Verkehrswege, 250 Besucherparkplätze, zweigeschossige Garagen und eine Tankstelle liegen unter der Erde

Darüber befindet sich der gärtnerisch gestaltete Bereich für die Fußgänger. Er reicht bis an das Zentrum heran, das außer den Läden für den täglichen Bedarf ein neuartiges Kleinkaufhaus – eine Art von Bazar – beherbergt. In der einen Ecke werden Schreibwaren feilgeboten, in der anderen Zigaretten verkauft und gegenüber kann der Kunde seinen Lottoschein abgeben. Im Zentrum finden obendrein „Gesundheit und Schönheit“ den gebührenden Platz: Arztpraxen, Apotheke, Sauna, Kneippbad, Kosmetiksalon und Friseur.

Mit hineingepackt in die Wohnanlage Entengraben hat Professor G. G. Dittrich ein Motel, mit 60 Betten, Gaststätte, Café und für die Kegelbrüder eine Bahn. Vollkommen aber wird die neue Siedlung dann sein, wenn die Stadt eines Tages die Volksschule baut. Vorgesehen sind einzelne Bungalows, die den Rednitzhang hinab gestaffelt sind.

Für die 560 Wohnungen – zwischen einem und fünf Zimmer groß – hat der Planer nicht minder sorgfältig überlegt, um den Menschen sowohl ein individuelles Wohnen zu ermöglichen als auch den Kontakt zum Nachbarn nicht zu verbauen. In die Zimmer fällt viel Sonne, vor den Fenstern liegt die grüne Umgebung. Jeder überflüssige Flurraum wurde mit dem Ergebnis vermieden, daß jedes Wohnzimmer mindestens 30 Quadratmeter Fläche besitzt. Sollten sich Nürnberger finden, die noch höhere Ansprüche stellen, so kann auch ihnen geholfen werden: es gibt Dachgartenwohnungen in luftiger Höhe und unten auf der Erde – hart am Rand des Rednitzhanges – schmucke Bungalows.

Neben dem jetzt in Angriff genommenen Teil ist vorgesehen, später einen zweiten Bauabschnitt anzufügen, mit dem zusammen die eigenwillige „kleine Stadt“ einmal 1.000 moderne Wohnungen zählen wird.

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