1. September 1967: Blind für die Gleise

1.9.2017, 07:00 Uhr
1. September 1967: Blind für die Gleise

© Kammler

Die Folgen sind oft schrecklich: allein von Januar bis August wurden acht Personen getötet, zehn schwer- und fast 500 leicht verletzt. Die Statistik für 1966 nennt acht Tote und 929 Verletzte. Außerdem waren die 158 Straßenbahnwagen der VAG, die an einem Tag 340 000 Personen befördern und dabei 23.000 Kilometer zurücklegen, in 858 Zusammenstöße mit anderen Fahrzeugen verwickelt.

1. September 1967: Blind für die Gleise

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„Sicherheit ist unser oberster Grundsatz. Aber leider lassen sich Unfälle nicht immer vermeiden“, klagt Fahrmeister und Ausbilder Josef Jakoby (56). Den wichtigsten Grund sieht er darin, daß „die Leute blindlings der Straßenbahn vertrauen und glauben, wir könnten noch rechtzeitig halten“. Meist haben sie keine genaue Vorstellung von den Schwierigkeiten, gegen die der Mann im „Cockpit“ des Zuges anzukämpfen hat: bis er einen Großraumwagen mit Beiwagen, in dem 400 Gäste Platz finden und der dann etwa 50 Tonnen wiegt, aus einer Geschwindigkeit von fast 30 Stundenkilometern abgebremst hat, braucht er etwa 29 Meter. „Unter Umständen“, so meint Josef Jakoby, „geht es auch schneller. Aber dann werden die Leute bestimmt über die Sitze geschleudert.“

Wenn ein Fußgänger plötzlich über die Gleise springt, nutzen die besten Bremsen nichts. Auch der Sandstreuer, der in solchen Fällen sofort bedient wird, kann kaum mehr helfen. Wozu in ähnlichen Situationen jeder Kraftfahrer noch imstande ist, das ist dem Straßenbahnführer verwehrt: er kann nicht ausweichen. „Das ist das Schlimmste“, gesteht Erhard Vogel (54). „Man sieht das Unglück kommen, bremst wie ein Wahnsinniger und kann es trotzdem mitunter nicht verhindern.

1. September 1967: Blind für die Gleise

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Grenzenloser Leichtsinn widerfährt ihm und seinen Kollegen oft an den Zebrastreifen, an denen die Autos halten müssen – aber wo die Straßenbahn Vorfahrt hat. „Daran denken die meisten Fußgänger nicht“, erzählt Willi Woller (48), der seit zwölf Jahren „seine“ Tram durch Nürnberg steuert. „Ohne auf unsere Bimmelzeichen zu achten, überqueren sie an diesen Stellen die Straßen. Viele werfen uns noch einen verächtlichen Blick zu ...“. „Die nervliche Belastung ist sehr groß“, gesteht Rudolf Schmidt (56). „Wenn ich vom Dienst nach Hause komme, brauche ich meine Ruhe.“

Die Straßenbahnfahrer haben alle eine strenge Ausbildung hinter sich und einen Katalog von Bestimmungen und Vorschriften zu beachten. Den Führerschein erhalten sie nur, wenn sie mindestens zwei Jahre lang als Schaffner bei der VAG waren, eine 36tägige Prüfung erfolgreich bestanden haben und nicht älter als 40 Jahre alt sind.

Damit aber nicht genug: um enge Tuchfühlung zur Praxis zu halten, müssen sie von zwölf Monaten mindestens drei einen Zug gesteuert haben und jährlich zweimal einen Nachunterricht besuchen. „Wer mit Alkohol erwischt wird“, sagt Ausbilder Jakoby, „darf keine Straßenbahn mehr lenken.“ Obwohl die Straßenbahnführer den gleichen Lohn wie die Schaffner erhalten, kennt die VAG keine Nachwuchssorgen. Vor allem jüngere Angestellte interessieren sich lebhaft für den Dienst an den Schalthebeln.

Wie sie damit umzugehen haben, ist genau vorgeschrieben. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 52 Kilometer, 30 „Sachen“ dürfen auf Gleisen, an denen ein Gehsteig entlangläuft, nicht überschritten werden, und mit sechs Stundenkilometern sind elektrische Weichen und Baustellen zu passieren. Obwohl viele Fahrgäste darüber klagen, daß die Straßenbahn zu langsam ist – in manchen Situationen fährt sie auch im Kriechtempo noch zu schnell. Aber daran ist nicht der VAG-Fahrer schuld …

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