16. Mai 1968: Sitzstreik vor der Lorenzkirche

16.5.2018, 07:00 Uhr
16. Mai 1968: Sitzstreik vor der Lorenzkirche

© Ulrich

Mit dem Sitzstreik protestierten die Jugendlichen gegen die Notstandsgesetze, die am gleichen Tag vom Bundestag in zweiter Lesung beraten wurden. Die spontane Demonstration verlief ohne Zwischenfälle, weil die Teilnehmer pünktlich das Feld wieder räumten und die Polizei nicht eingriff. Präsident Dr. Horst Herold, der den Demonstranten diszipliniertes Verhalten bescheinigte, hatte auf jede Gewaltanwendung verzichtet und seine Beamten erst gar nicht aufmarschieren lassen.

16. Mai 1968: Sitzstreik vor der Lorenzkirche

© Ulrich

Der Sitzstreik war kurz zuvor auf einer Kundgebung am Hauptmarkt beschlossen worden. Dort hatten sich die Studenten und Schüler versammelt, um eine große Diskussion über die Notstandsgesetze in Gang zu bringen. Das wichtigste Ergebnis war eine Resolution an den Deutschen Gewerkschaftsbund, der bis zur dritten Lesung der umstrittenen Gesetze einen Generalstreik ausrufen soll.

In zahlreichen Ober- und Hochschulen war der Tag mit Teach-ins eingeleitet worden, Im überfüllten Auditorium maximum in der Findelgasse hatten der AStA der Universität Erlangen-Nürnberg, der Sozialdemokratische Hochschulbund und der Hans-Böckler-Kreis zu einer solchen Diskussion eingeladen, an der sich auch etwa 500 Studenten des Ohm-Polytechnikums, Mitglieder des Ringes Christlich-Demokratischer Studenten und einige Oberschüler beteiligten.

Bei nur acht Gegenstimmen wurde eine Resolution angenommen, die die Bildung eines Aktionskomitees vorsieht. Das aus elf Mitgliedern bestehende Gremium soll: - in kooperativer Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Schülern Notstands-Debatten vorbereiten; - gemeinsame Aktionen in Betrieben organisieren; - Vorlesungs- und Schulstreiks ausrufen, um in breiter Front gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze zu agieren.

Außerdem wurden die politischen Referenten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und des Ohm-Polytechnikums beauftragt, die Namen der Mitglieder des Bundestages festzustellen und öffentlich bekanntzumachen, die in der zweiten Lesung die Notstandsgesetze befürwortet haben. Damit soll versucht werden, die Abgeordneten in eine breite öffentliche Diskussion zu ziehen. Die Parlamentarier müßten ebenso Farbe bekennen wie die Professoren, „damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben“.

Die ablehnende Haltung der meisten Studenten gegen die Notstandsgesetze erläuterte AStA-Vorsitzender Volker S. Die jüngste Gesetzesvorlage des Rechtsausschusses bezeichnete er als einen verkappten Regierungsentwurf. „Die große Koalition spielt mit uns Katz und Maus“, meinte er. „Die Demokratie ist nicht von unten, sondern von oben gefährdet“, erklärte Bert V- (SHB). Seine Abneigung gegen die Notstandsgesetze faßte er in den Worten zusammen: „Eine solche Verfassung verbaut die Souveränität unseres Volkes.“ Mit Hohngelächter wurde die Rede von Ingo F. (RCDS und Mitglied der Jungen Union) aufgenommen, die Studenten sollten in die Parteien eintreten und sich für eine modifizierte Form der zur Zeit vorliegenden Notstandsgesetze eintreten „die wir dringend brauchen“.

Ebenso wie im Auditorium maximum riefen die Sprecher bei der Kundgebung auf dem Hauptmarkt die Arbeiter auf, sich mit den Studenten und Schülern solidarisch zu erklären. In diesem Zusammenhang wurde die Bevölkerung eingeladen, heute um 17 Uhr eine Diskussion vor den MAN-Werken zu besuchen. „Wir dürfen uns nicht als Elite verstehen“, betonte der Soziologiestudent Stephan S. „sondern wir brauchen die Solidarität der Arbeiter. Wie lange wird an der Hochschulreform herumgewurstelt? Minister Huber weigert sich immer noch, etwas zu tun. Es ist höchste Zeit, daß sich die Bevölkerung ernsthaft Gedanken über diesen Fragenkomplex macht. Das gleiche gilt auch für die Notstandsgesetze!“

Geschlossen zogen dann die Kundgebungsteilnehmer vor die Lorenzkirche und ließen sich dort zum Sitzstreik nieder. Einsatzkräfte der Polizei kreuzten erst auf, als die Verkehrsruhe bereits beendet war. Die Demonstranten, die von den Studentensprechern zur Besonnenheit aufgerufen worden waren, empfingen die Beamten mit Bravorufen im Chor riefen sie: „Mach aus Polizisten gute Sozialisten“.

Fernsehen in den Schulen

An den Nürnberger Gymnasien und Realschulen herrschte gestern teilweise große Verwirrung, weil die Schülervertretungen das Entgegenkommen einiger Direktoren allzu sehr in ihrem Sinne ausgelegt hatten. Die Schüler erhielten nicht unterrichtsfrei sondern die Gymnasienleiter ermöglichten den Oberklassen zum Teil schulinterne Diskussionen über die Notstandsgesetzgebung und ließen sie am Fernsehen oder Rundfunk die Debatte im Bundestag verfolgen. Erst nach Schulschluß konnten sich die Interessierten an Kundgebungen beteiligen. An vielen weiterführenden Schulen wurde der Stundenplan nicht unterbrochen.

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