19. Oktober 1967: Kampf gegen das Gift

19.10.2017, 07:00 Uhr
19. Oktober 1967: Kampf gegen das Gift

© Kammler

Mit einer schweren Alkoholvergiftung landet er im Krankenhaus. Er kommt in die Entgiftungsabteilung der II. Medizinischen Klinik, die 1962 aufgebaut worden ist und inzwischen mehr als nur örtliche Bedeutung gewonnen hat. Dort kümmert sich ein erfahrenes, eingespieltes Team von Ärzten und Pflegern um den Patienten, der alle Aussicht hat, mit einem blauen Auge davonzukommen. Denn nur bei einem v. H. der Vergiftungsfälle war bisher alle ärztliche Kunst vergebens gewesen.

Ebenso wichtig wie die „Feuerwehr“-Aufgaben sind – gerade gegenüber Lebensmüden – die Nachbehandlung und die Erforschung der Motive, um Rückfälle auszuschalten. Auch hier gibt es erstaunliche Erfolge. Nur 1,5 v. H. der Menschen, die nach einem Selbstmordversuch eingeliefert wurden, kamen aus diesem Grunde eines Tages wieder in das Krankenhaus, während früher die Quote der „Rückfälligen“ bei rund zehn v. H. Lag.

Die Vergiftungswelle rollt, ausgelöst durch den Arzneimittel-Mißbrauch und die unzähligen giftigen Produkte, mit denen der Mensch heute tagtäglich in Berührung kommt. Die Medizin stellte sich auf die Lawine ein. „Früher wurden Vergiftungsfälle – gleich, wie schwer sie waren – auf die Stationen verteilt, in denen gerade Platz war. Aber bei 2.750 Betten – die Krankenanstalten sind damit das größte zusammenhängende Klinikum Deutschlands – war es notwendig, eine eigene Abteilung zu schaffen“, erklärt der Chef der II. Medizinischen Klinik, Professor Dr. René Schubert.

834 Patienten in einem Jahrhundert

Die Vorteile liegen auf der Hand. Ärzte und Pflegepersonal können beim Eintreffen eines Patienten durch ein Signal sofort zusammengetrommelt werden. Medikamente liegen stets griffbereit, moderne Apparate helfen der Medizin: Entgiftungs- und Absauggeräte, ein Sauerstoffgerät beispielsweise, unter dessen Zelt der Kranke kühl gebettet oder gewärmt werden kann, oder ein nach allen Seiten kippbarer Behandlungstisch. Außerdem besitzt die Abteilung ein eigenes Labor für die Giftanalysen.

Vom 1. August 1962 bis 15. Oktober 1967 hat es im alten Haus, in den die Spezialisten und Patienten freilich nicht mehr ganz zeitgerecht untergebracht sind, 3695mal geklingelt. Allein im vergangenen Jahr wurden 834 Patienten behandelt, heuer waren es bisher schon 685. Jeder Vergiftungsfall im Stadtkreis, alle schweren Fälle im Umkreis von 20 Kilometer und sehr schwere Fälle im Umkreis von 60 Kilometer werden hier eingeliefert.

Diese Vielzahl ermöglicht es den Ärzten, eine Fülle von Erfahrungen auf dem weitgespannten Gebiet der Toxikologie, der Lehre von den Giften und den Vergiftungen, zu sammeln. Es ist interessant, in der Statistik zu blättern, ohne die auch die Medizin heute nicht mehr auskommt.

Dabei zeigt sich, daß sich fast doppelt so viele Frauen wie Männer vergiften. Unter den Anlässen steht der Selbstmordversuch mit 69,1 v. H. an erster Stelle. 30,9 v. H. der Vergiftungen kamen unbeabsichtigt zustande, denn es gibt noch Patienten, die die Bierflaschen verwechselten. Sie wollten einen Schluck des edlen Gerstensaftes nehmen und erwischten die danebenstehende Bierflasche, in die Lötwasser gefüllt worden war. Den Rest machen „gewerbliche Vergiftungen“ aus, verursacht meist durch Lösungsmittel.

Tabletten der einzige Ausweg?

Oberarzt Dr. Helmut L. Staudacher hat insbesondere auch die Selbstmordversuche unter die Lupe genommen und entdeckt, daß 62,3 v. H. der Frauen und 37,7 v. H. der Männer daran beteiligt sind, wobei in der Alterszusammensetzung die jüngeren Generationen – zwischen 20 und 40 Jahren – überwiegen. Im übrigen – so meint er – habe sich auch das Motiv gewandelt . Waren es früher meist berufliche oder finanzielle Schwierigkeiten, so spielen heute meist familiäre oder sexuelle Gründe eine Rolle. Ehestreitigkeiten und schlechte häusliche Verhältnisse, Liebeskummer und Eifersucht stehen deshalb in der Liste ganz obenan.

„Der Entschluß wird oft nach belanglosen Auseinandersetzungen gefaßt. Die Menschen machen keinen Versuch, mit ihren Sorgen anderweitig fertig zu werden, sondern greifen lieber zu der leider zu leicht zugänglichen Tablette“, meint Dr. Staudacher und deutet damit an, daß Arzneimittel heute bei den weitaus meisten Selbstmordversuchen verwendet werden, während der Griff zum Gashahn immer seltener wird. Im übrigen aber meinen es viele Lebensmüde gar nicht so ernst. 60 v. H. der Versuche sind mehr als „Schreckschuß“ gemeint, insbesondere, wenn Jugendliche betroffen sind.

Die zweite, weitaus kleinere Gruppe, bilden die Menschen, die sich unbeabsichtigt vergiftet haben, meist mit Alkohol, aber auch mit Arzneimitteln, mit Kohlenmonoxyd oder mit Nahrungsmitteln. Unachtsamkeit und sträflicher Leichtsinn bringen diese Menschen in die Entgiftungsabteilung, die sich als sehr wirksames Instrument erwiesen hat.

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