22. Dezember 1968: Dunstglocke immer dichter

22.12.2018, 08:01 Uhr
22. Dezember 1968: Dunstglocke immer dichter

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Daß zwischen der Luftverschmutzung und dem Wetter ein ursächlicher Zusammenhang besteht, wissen nicht nur die Lufthygieniker und Meteorologen, sondern es beschäftigt zunehmend auch Staatsmänner und Politiker. Doch Lufthygiene ist ein junges Wissenschaftsgebiet und die Toleranzwerte sind umstritten.

"Die Luft ist erfüllt vom Geschwätz über die Luft", klagte unlängst ein Fachmann. Die Begriffe "Emmissionen" und "Immissionen" verbreitern sich zunehmend in der Umgangssprache. Was noch vor wenigen Jahren Wissenschaftlern vorbehalten blieb, kann heute jeder Stadtrat definieren: Was der Autoauspuff, der Hauskamin oder der Schornstein in die Atmosphäre qualmt, ist die Emmission; was Menschen, Tiere und Pflanzen einatmen, heißt Immission.

Beim Gesundheitsamt der Stadt Nürnberg mehren sich die Beschwerden über die Luft. Das Bundesgesundheitsministerium will mit harten Bestimmungen gegen die "Verschmutzer" angehen. Im bayerischen Innenministerium wird eine Verordnung zur Reinhaltung der Luft vorbereitet, die noch im nächsten Jahr wirksam werden soll. Die "Front der Freunde reiner Luft" beginnt sich zu formieren.

"Wann wird der Himmel blau?"

"Die Reinhaltung der Luft als Problem ist der Wille, keine weitere Verschlechterung mehr zuzulassen", beantwortete der Präsident des Bundesgesundheitsamtes, Professor Dr. Walther Liese die Frage: "Wann wird der Himmel wieder blau?" Aus einem realistischen Programm aber, das Stillstand schon als Fortschritt preist, lassen sich auf die Dauer eben keine zündenden Wahlkampfparolen schmieden. Das drängende Problem "reine Luft" kann deshalb wirksam nur im grauen Alltag der Lufthygieniker und Ingenieure entschieden werden. Zurückgeblieben von den zündenden Parolen ist das unbestimmte Unbehagen einer ängstlichen Bevölkerung. Dennoch sind Luftverschmutzung und Luftreinhaltung das Kardinalproblem unserer Tage.

22. Dezember 1968: Dunstglocke immer dichter

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Bereits beim Vorentwurf für die bayerische Reinhaltungsverordnung ergeben sich mannigfache technische Schwierigkeiten, seufzte Regierungsdirektor Dr. Luther im Münchner Innenministerium. Schon heute seien die Grenzwerte in der "Technischen Anleitung zur Luftreinhaltung" vom Jahre 1964 heftig umstritten. Dr. Luther warnte vor einer Überschätzung der Eingriffsmöglichkeiten einer staatlichen Verordnung, solange keine genauen und wissenschaftlich anerkannten Erfahrungswerte vorliegen.

Das soll sich für den Raum Nürnberg alsbald ändern. Bayerns Immissionsfachmann, Ministerialrat Dr. Kersten kündigte an, daß die Oberste Baubehörde Bayerns die Stadtverwaltung beauftragen wird, die Luftuntersuchungen im Stadtgebiet wesentlich zu verstärken. "Der industriereiche Ballungsraum Nürnberg – Fürth – Erlangen erfordert im Interesse seiner Bevölkerung eine gründliche und ständige Überwachung der Luftbeschaffenheit", meinte Dr. Kersten, der für die bayerischen Industrieregionen die Erstellung eines „Luftkataster“ anstrebt, wie er in Nordrhein-Westfalen seit einigen Jahren erfolgreich angelegt wird.

Im Rathaus ist die Bereitschaft, den bayerischen Wünschen zu entsprechen, nicht sonderlich groß. Man verkennt bei der Stadtverwaltung keineswegs die Gefahren, die von einer Luftverschmutzung ausgehen. Doch Luftuntersuchungen kosten viel Geld, und Nürnberg ist eine sparsame Stadt. Noch gibt die Stadt für die Luftüberwachung pro Einwohner und Jahr einen Groschen aus: die Stadt München jedoch eine halbe Mark. Die Stadtväter wollen dem Staat einen Teil der Untersuchungskosten aufbürden.

Staubmessungen und Luftuntersuchungen werden im Stadtgebiet seit längerer Zeit von der städtischen chemischen Untersuchungsanstalt durchgeführt, in diesem Jahr sogar verstärkt. Die Zahl der stationären Meßstellen wurde von sieben auf 15 erhöht. Doch für die Ansprüche der Obersten Baubehörde reichen diese Maßnahmen nicht aus. Bei der Stadtverwaltung arbeiten vier „Luftreiniger“. Die Stadt München beschäftigt 25 Techniker und Wissenschaftler. Um den Schwefeldioxydgehalt gleichzeitig in den verschiedenen neuralgischen Stadtgebieten messen zu können, wären drei Meßwagen notwendig, aber nur einer steht bereit. Auch das Netz der stationären Meßstellen sollte wesentlich mehr verdichtet werden, um genauere Meßwerte zu erhalten.

Direktor Dr. Bruno Trinczek, Leiter der Chemischen Untersuchungsanstalt, beschwichtigte: "Nürnberg belegt auf dem Gebiet der Luftverschmutzung nur einen achtbaren Mittelplatz." Die waldreiche Umgebung und die vorherrschend günstige nebelfreie Wetterlage hat Schlimmeres bisher verhütet. Trotzdem gab es in einzelnen Stadtteilen im November den gefürchteten Smog. Schuld an dieser unangenehmen Erscheinung, in der schweflige Säure im Nebel zu Schwefelsäure umgewandelt wird, trage die Inversionswetterlage, dozierte Dr. Trinczek.

Eine Temperaturumkehr in wenigen hundert Metern über der Erdoberfläche läßt eine Sperrschicht entstehen, die den vertikalen Luftaustausch unterbindet. Inversionswetterlagen pflegen nur während einer kurzen Zeit aufzutreten. Langanhaltendes Inversionswetter forderte im Dezember 1952 in London 2.000 Todesopfer. Glimpflich kamen im Januar 1957 die Bürger Frankfurts davon. Die vergiftungsähnlichen Zustände führten bei Erwachsenen und Kindern zu Brechreiz und Schwindelanfällen.

Auf 100 Quadratmeter Fläche rieseln monatlich je nach Stadtgebiet 300 bis 2.000 Gramm Staub nieder. Damit seien die für industrielle Ballungsgebiete zulässigen 2.500 Gramm Staub für Nürnberg noch nicht erreicht. Dr. Trinczek räumte jedoch ein, daß es sich bei diesen Zahlen um Jahresmittelwerte handelt, die nicht ausschlössen, daß an einzelnen Tagen, besonders im Winter, die zulässige Toleranzgrenze auch in Nürnberg überschritten wird. Aber darüber fehlten genaue Meßergebnisse.

In Nürnberg werden augenblicklich rund 20.000 Öfen mit Gas beheizt. Allein im laufenden Jahr wurden 2.324 Gasheizanlagen neu eingerichtet. Enormen Zuwachs verzeichnen auch die Nachtstromspeichergeräte, 1.800 der 3.200 elektrischen Heizgeräte wurden in diesem Jahr installiert. Auch die Heizung durch Fernwärme macht weiteren Fortschritt. Doch die Bürger in den Altbaugebieten werden weiter mit dem Rußregen leben müssen.

Mit den Folgen der Luftverschmutzung für den Menschen befaßt sich eingehend das Gesundheitsamt. Wenn auch keine besorgniserregende Erkrankungen festgestellt werden konnten, so besteht kein Zweifel, daß die Klimaveränderung durch die Dunstglocke Schäden verursachen kann.

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