26. September 1968: "Sit-in" im Gerichtssaal geprobt

26.9.2018, 07:08 Uhr
26. September 1968:

© Ulrich

Doch das liebliche Vorspiel – vermutlich der APO zu verdanken – währte nicht lange. „Rockers“ und „Blue Angels“ sowie bärtige junge Männer mit entschlossenen Gesichtern drängten alsbald in den Gerichtssaal, veranstalteten ein „sit-in“, da sie keinen Sitzplatz mehr finden konnten, und blieben solange, bis sie von den (vorsorglich in großer Zahl erschienenen) Polizeibeamten mit sanfter Gewalt hinausbefördert wurden.

Später Beginn

Erst danach konnte der Prozeß gegen drei Männer beginnen, denen die Anklage die Beteiligung an dem „Auflauf“ vor der Meistersingerhalle anläßlich des SPD-Parteitages vorwarf. Die Delinquenten, ein 27-jähriger Diplomingenieur, ein 26-jähriger Diplomsoziologe und ein 29-jähriger Vertreter, befanden sich am 17. März unter den Demonstranten, die den Parteispitzen der SPD einen wenig freundlichen Empfang bereiteten. Nicht Gewalttaten, aber Ungehorsam gegenüber der polizeilichen Aufforderung, den Platz zu räumen, lag ihnen zur Last. Sie verließen die Menge nicht, obgleich die Polizei bereits dreimal dazu aufgefordert hatte.

Der eine deshalb, weil er die Aufforderung angeblich nur einmal gehört hatte; der andere aus Unvermögen, aus der Menge herauszukommen; der dritte, weil er sich solidarisch mit den protestierenden Demonstranten fühlte.

Alle drei wehrten sich vor Gericht gegen die „Stimmungsmache“ in der Anklageschrift, in der die Gewalttätigkeiten erwähnt waren, mit denen sie nichts zu tun hatten. Sie nahmen für sich in Anspruch, nur von ihrem verbrieften Demonstrationsrecht gegen die Politik der SPD Gebrauch gemacht zu haben. Der schwergewichtigste unter den dreien, der Vertreter, hielt es sich überdies zugute, daß er Wehner einige blaue Flecken ersparte, indem er sich hinter den stellvertretenden Vorsitzenden stellte und mit seiner Körperfülle gegen die andrängende Menge deckte.

Teils durch Aussagen von Polizeibeamten, teils durch Lichtbilder, die von den Demonstranten gemacht worden waren, wurde die Verteidigung der drei jedoch erschüttert. Der Staatsanwalt billigte ihnen zwar das Recht der freien Meinungsäußerung auch im Rahmen einer Demonstration zu, meinte aber, daß sie im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mit je einem Monat Gefängnis bestraft werden müßten. Gegen Bewährungsfrist hatte er keine Bedenken.

Ihr Verteidiger, Rechtsanwalt Wolfgang B. Vetter, forderte Freispruch, weil kein Grund vorgelegen habe, die Demonstranten von der Meistersingerhalle abzudrängen. Es wäre, so meinte er, nicht Sache der Polizei gewesen, die Veranstalter des Parteitages vor unangenehmen Zurufen der Demonstranten zu schützen.

Amtsgerichtsrat Hans Manger, der sich durch gelegentliche Provokationen aus den Zuhörerraum nicht aus der Fassung bringen ließ, urteilte nüchtern, daß die Teilnehmer am Parteitag jedenfalls einen Anspruch darauf hatten, ungehindert die Meistersingerhalle verlassen zu können. Mit der Begründung, daß die drei Angeklagten nicht aus RadauIust, sondern ihrer politischen Überzeugung wegen an der Demonstration teilgenommen hatten, sprach er nur Geldstrafen von 150 bis 300 Mark aus.

23 junge Männer, die sich im Gerichtssaal am „sit-in“ beteiligt hatten, meist „Rocker“ und „Blue Angels“, wurden von der Polizei vorübergehend in Gewahrsam genommen und erst nach der Verhandlung wieder auf freien Fuß gesetzt. Vier von ihnen hatten Stahlruten bei sich. Gegen alle wurde Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs erstattet. Voraussichtlich haben sie auch mit einem Hausverbot für das Justizgebäude zu rechnen.

Alle Anzeichen sprechen dafür, daß von einer zentralen Stelle aus Aktionen gegen die Justiz gestartet werden. Der gestrige Auftritt im Nürnberger Gerichtsgebäude an der FIaschenhofstraße hat offensichtlich bereits dazu gehört. Bei der Justiz werden Methoden erwogen, mit denen derartigen Ausschreitungen wirksam begegnet werden kann.

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