29. April 1966: Bißchen zu preußisch

29.4.2016, 07:00 Uhr
29. April 1966: Bißchen zu preußisch

© Jurisch

Der 25jährige Hauptwachtmeister Ingo G., der diese kleine Episode erlebte, ist einer von vier Nürnberger Polizeibeamten, die für drei Monate im Austausch gegen vier Berliner Polizisten gegenwärtig in Westberlin Dienst tun. Polizeihauptmeister Erich L. ist mit 45 Jahren der älteste der Nürnberger Tauschpartner. Ihm folgt der 28jährige Polizeimeister Heinz H. Und als jüngster der Kriminalbeamte Polizeihauptwachtmeister Günter B., 24 Jahre alt.

Während B. auch im Dienst Zivil trägt, sind die drei anderen in Berliner Uniformen geschlüpft. Nicht gerade mit Begeisterung! Sie finden die Qualität des Stoffes schlecht und mußten sich „auf Kammer“ fertige Uniformen aussuchen, während zu Hause in Nürnberg die nach ihrer Ansicht moderner geschnittenen Uniformen nach Maß angefertigt werden. Am meisten haben sie an dem polizeilichen Schuhwerk Berlins auszusetzen: die Schuhe sind viel zu hart, deshalb tragen die drei ihre privaten Schuhe zur Berliner Uniform.

Der Austausch von Bediensteten zwischen Berlin und den übrigen Ländern und Gemeinden der Bundesrepublik hat im Sommer 1962 begonnen. Durch eine drei- bis sechsmonatige Tätigkeit sollen Verwaltungsangehörige aus Westdeutschland Berlins Alltag kennenlernen und Verständnis für die besondere Situation der geteilten Stadt gewinnen. Der Austauschgedanke hat ein überraschend großes Echo gefunden. Bisher sind bereits insgesamt 654 westdeutsche Beamte oder Angestellte des mittleren oder höheren Dienstes für ein viertel oder halbes Jahr in Berlin gewesen und die gleiche Zahl von Berlinern hat inzwischen die Arbeitsplätze der Tauschpartner eingenommen.

Der Senator für Inneres hat ein sorgfältiges Programm zusammengestellt, damit die Gäste wirklich etwas sehen, erleben und die Berliner Probleme kennenlernen. Da gibt es politische Vorträge, Betriebsbesichtigungen, eine Stadtrundfahrt, Mauerbesuche, Fußballspiele und an jedem dritten Montag ein geselliges Beisammensein mit Tanz für alle Austauschbeamten, unter denen auch die nötige Anzahl weiblicher Wesen ist. „Einmalig“ nennen die vier Nürnberger das Berliner Betreuungsprogramm, vor allem die politischen Vorträge haben ihnen tiefen Eindruck hinterlassen.

Polizeihauptmeister L. hat sich nicht nur bei der offiziellen Rundfahrt, sondern auch bei eigenen Besuchen, die Mauer und die „moderne Grenze“ mit ihren tiefgestaffelten Sicherungsanlagen angesehen und er formuliert: „Jeder Westdeutsche sollte einmal an die Mauer gehen, dann wäre das Verständnis für die Probleme unseres geteilten Landes in der Bundesrepublik viel größer.“ Bei allem Interesse möchte der 25jährige Hauptmeister G. aber nicht in Berlin leben: „Man kommt sich so eingesperrt vor.“ Die aufgeschlossenen Nürnberger überlegten, wie schlecht es erst stünde, wenn nicht zum Berliner Stadtgebiet im Norden und Westen so viele Forsten, Wälder und Seen gehörten.

Nicht nur die Uniform, sondern auch manches andere im Berliner Polizeibetrieb hat die Nürnberger Polizisten zu kritischen Vergleichen veranlaßt. L. ist bei einer Verkehrsstaffel eingesetzt und wundert sich, über wie wenig Funkwagen die Berliner Polizei verfügt. Auch die beiden Beamten, die Revierdienst machen, müssen nächtliche Streifen häufig zu Fuß absolvieren.

Blühender Papierkrieg

Ein bißchen zu „preußisch“ empfinden die Nürnberger Polizisten den Ton bei der Berliner Polizei. Das Klima in den Dienststellen sei mäßig, der Papierkrieg blühe und häufig werde im Befehlston gesprochen. „Wenn einer bissel einen Dienstrang hat, läßt er sich mit ‚Sie‛ anreden“, klagt ein Nürnberger, der von zu Hause das kameradschaftliche „Du“ in der Polizei gewöhnt ist. Alle finden, daß die Polizeireviere in ihrer Ausstattung viel zu wünschen übrig lassen. Mitunter gibt es nur ein einzige Schreibmaschine.

Günter B. hat bei der Berliner Kriminalpolizei jede Woche in einer anderen Abteilung Dienst getan, um möglichst viel zu lernen. Er ist – wie er sagt – „ganz begeistert“ von der kriminaltechnischen Untersuchungsstelle, aber bei den nächtlichen Streifen in finstere Kneipen oder Absteigequartiere ist er recht erstaunt, wie hart die Berliner Polizisten zufassen. „Bei uns hätten wir da gleich eine Anzeige wegen Körperverletzung“. Erstaunt war B., daß auch kleine Kriminalität – Sachbeschädigung oder Prügeleien – von der Kripo bearbeitet wird. In Nürnberg erledigt das die Schutzpolizei. Übrigens gibt's im Nürnberger Nachtleben viel mehr Schlägereien als in Berlin, ergänzt Polizeimeister H., der es wissen muß, weil er jede vierte Nacht im Zoo-Viertel Streifendienst macht.

Nur in einem Punkt üben die Nürnberger harte Kritik an ihrer Vaterstadt: Die Austauschbeamten aus allen anderen Städten, Gemeinden oder Bundesländern bekommen, ebenso wie ihre Berliner Austauschpartner, im dritten Monat eine Urlaubsreise nach Hause bezahlt. Wenn sie sechs Monate in Berlin bleiben, gibt es sogar zwei- oder dreimal freie Fahrt für einen Wochenendbesuch. Die Stadt Nürnberg aber hat die Familien-Heimfahrten abgelehnt, mit der Begründung, die Polizisten seien ja freiwillig nach Berlin gegangen.

Sie mußten auch – als einzige der Austauschbeamten – mit dem Flugzeug nach Berlin reisen, konnten also nicht, falls vorhanden, ihr eigenes Auto mitnehmen, weil sie nicht durch die Zone fahren durften. Dennoch wollen sie Ostberlin besuchen, wenigstens mit einer Stadtrundfahrt, um die Wirklichkeit drüben einmal mit eigenen Augen zu sehen.

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