30. Mai 1968: Tausende legten den Verkehr lahm

30.5.2018, 07:00 Uhr
30. Mai 1968: Tausende legten den Verkehr lahm

© Ulrich

Während die 3.000 bis 4.000 Demonstranten in Sprechchören, mit Plakaten und Transparenten lautstark gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze protestierten, gab es für Straßenbahnen und Fahrzeuge kein Durchkommen: kilometerlang stauten sich die Autos am Ring.

Die gleiche Verkehrsblockade hatten bereits am Vormittag tausend Studenten und Oberschüler verhängt, als sie gut zwei Stunden lang durch die Straßen zogen und ebenfalls wichtige Verkehrsknotenpunkte einnahmen.

30. Mai 1968: Tausende legten den Verkehr lahm

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Diese bisher größten Demonstrationen verliefen jedoch ohne Zwischenfälle, weil sich die Polizei nicht aus der Reserve locken ließ. Mit bemerkenswerter Ruhe und Gelassenheit „dirigierten“ einige Beamte die Protestzüge und leiteten entgegenkommende Fahrzeuge über Seitenstraßen um.

Ausgangspunkt des Protestmarsches am Morgen war die Universität in der Findelgasse, wo seit Dienstagabend Studenten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät das Auditorium maximum besetzt hielten. Etwa 200 Jung-Akademiker hatten die Nacht in dem Hörsaal verbracht und Flugblätter gedruckt, die gestern morgen in zahlreichen Betrieben verteilt wurden. Streikposten, die in aller Herrgottsfrühe vor dem Gebäude aufgezogen waren, konnten allerdings den Wissenschaftsbetrieb nicht lahmlegen.

Die meisten Vorlesungen wurden gehalten und die Klausurarbeiten geschrieben. Gegen 8.30 Uhr hatten die studentischen Notstandsgegner sogar ihr Aktionszentrum verloren: die etwa 40 Streikwilligen im Auditorium maximum wurden von anderen Kommilitonen überstimmt, die von Professor Löbner Wirtschaftspädagogik hören wollten. Eine halbe Stunde später kehrte jedoch der „Basistrupp“ von seinem Agitationsrundgang zurück. Kurzerhand sprengte er die Vorlesung und „eroberte“ den Hörsaal wieder zurück.

Mit einem Fehlschlag endete dagegen der Versuch von etwa hundert Dürer-Gymnasiasten, die zum Willstätter-Gymnasium gezogen waren und ihre Kollegen zum Schulstreik animieren wollten. Das Ergebnis für die Jungrevoluzzer war enttäuschend: die Demonstranten wurden mit stimmgewaltigen FCN-Rufen empfangen, so daß sie resigniert wieder von dannen zogen. Allerdings blieben die Solidarisierungsbemühungen nicht gänzlich ohne Erfolg: im Dürer-Gymnasium erschienen zahlreiche Oberklassen nicht zum Unterricht, und auch im Neuen Gymnasium gab es einige Lücken.

Nach pausenlosen Diskussionen im Auditorium maximum gingen die Notstandsgegner zu Aktionen über: etwa 500 Wi-So-Studenten, 400 streikende Kormmilitonen von der Pädagogischen Hochschule und der Kunstakademie sowie 150 Oberschüler formierten sich zu einem Protestmarsch durch die Stadt. Seine Stationen:

10.56 Uhr: die Demonstranten setzen sich vor der Lorenzkirche auf die Königstraße. Immer wieder fordern sie in Sprechchören: „Brecht die Macht der Notstandsplaner“ oder „Hau-ruck – setzt den Benda unter Druck“. Nach zwei Minuten ziehen sie weiter in Richtung Kaiserstraße und Josephsplatz.

30. Mai 1968: Tausende legten den Verkehr lahm

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11.15 Uhr: der Zug ist vor dem Polizeipräsidium angekommen. Minutenlang brandete der Ruf „Macht aus Polizisten gute Sozialisten“ gegen das Gebäude. Durch die Fenster verfolgen zahlreiche Beamte das Sit-in.

11.24 Uhr: der Plärrer ist erreicht. Langsam marschieren die Studenten über die Fahrbahn am Ludwigstor und ziehen über den Frauentorgraben stadteinwärts.

11.46 Uhr: die Spitze des Zuges hat die SPD-Geschäftsstelle in der Karl-Bröger-Straße erreicht. Im Chor rufen die Demonstranten: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten“. Ein Zwischenfall ist schnell gütlich geregelt: ein Schüler schlägt mit der Faust eine Scheibe der Eingangstür ein und erklärt sich sofort breit, für den Schaden aufzukommen.

12.01 Uhr: vor dem Hauptbahnhof beim Königstor lassen sich die Demonstranten zu einem Sitzstreik nieder. Entgegenkommende Autofahrer wenden auf der Fahrbahn oder flüchten über die Geleise der Straßenbahn. Nur einem heranbrausenden Sanitätswagen mit Blaulicht und Sondersignal wird sofort Platz gemacht.

12.13 Uhr: die Menge erhebt sich und marschiert weiter über die Bahnhofstraße, durch das Marientunnel zur Regensburger Straße.

12.40 Uhr: in der Stephanstraße werden Arbeiter und Angestellte der Firma Diehl aufgefordert, sich Diskussionen zu stellen oder einen Warnstreik einzulegen. Vorsorglich werden die Fabriktore versperrt Nach zwanzig Minuten wird eine Delegation von fünf Studenten zum Betriebsrat geschickt, der mit den Jugendlichen über die Notstandsgesetze diskutiert.

Ermüdet von dem über zweistündigen Marsch, dem zum Schluß immer mehr Demonstranten den Rücken kehrten, löste sich gegen 13.30 Uhr der Zug auf.

Die Teilnehmer mußten wie schon bei früheren Demonstrationen die Erfahrung machen, daß sich die Bevölkerung sehr reserviert verhält. Die pausenlosen Rufe „Bürger laßt das Gaffen sein, reiht euch lieber bei uns ein“ oder „Mitmarschieren, solidarisieren“ wurden kaum befolgt. Nur wenige Passanten schlossen sich dem Zug an. Bei lebhaften Diskussionen am Straßenrand holten sich die Studenten meist noch eine Abfuhr. „Ihr solltet lieber etwas arbeiten“ war ein geflügeltes Wort.

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