30. November 1967: Sorgen um Nürnbergs Wirtschaft

30.11.2017, 07:00 Uhr
30. November 1967: Sorgen um Nürnbergs Wirtschaft

© Ulrich

Oberbürgermeister Dr. Urschlechter legte gestern der Vollversammlung des Wirtschaftsbeirates eine Analyse über Nürnbergs wirtschaftliche Lage vor. Die Denkschrift der Verwaltung wird bis Ende März nächsten Jahres überarbeitet und soll dann die Richtlinien der künftigen Wirtschaftspolitik aufzeigen.

Die Stadt hofft bei ihren Bemühungen, für die Ansiedlung neuer Unternehmen und Betriebe attraktiver zu werden, vor allem auf die Hilfe des Bundes und des Landes. Die Liste ihrer Wünsche reicht vom Bau der Autobahnstrecke Nürnberg – Heilbronn über die Errichtung einer Technischen Hochschule bis zum Sitz der Bezirksregierung.

Die Denkschrift von 65 Schreibmaschinenseiten, die der Wirtschaftssenat mit dem Oberbürgermeister an der Spitze vorgelegt hat, kommt zu interessanten Ergebnissen:

1. Die Stadt Nürnberg fällt unter den deutschen Großstädten weder negativ noch positiv aus der Reihe. Sie behauptet einen Platz, der ihrer Lage unter den Großstädten und in ihrer Wirtschaftslandschaft entspricht. Mit Köln oder gar München kann sie sich allerdings nicht vergleichen (Köln hat in den Jahren 1961 bis 1966 einen Bevölkerungsgewinn von 50.000, München sogar von 150.000 Menschen).

2. Nürnberg steht in einem allgemeinen Umwandlungsprozeß, in dem sich die Anteile der einzelnen Wirtschaftsbereiche zum tertiären Sektor (also zur Dienstleistung) hin verschieben. Die Entwicklung entspricht einem allgemeinen Zug der Zeit in der ganzen Bundesrepublik.

3. Die Stellung Nürnbergs ist vorgegeben durch seine Lage in einem Gebiet mit mehreren Schwerpunkten; sie steht ganz im Gegensatz zu der eindeutigen Zentralstellung des Münchener Raumes, die günstigere Verhältnisse schafft. Die Stadt befindet sich mit ihrem Umland in einem Wettbewerb um wirtschaftliche Initiative. Die Gewichte verlagern sich nicht nur nach der Bevölkerungszahl, sondern auch nach der Wirtschaftskraft zugunsten des Umlandes.

4. Die Situation der Handwerksbetriebe entspricht der Lage in vergleichbaren Städten; das Mechanikerhandwerk ist herausragend konzentriert.

5. In den vergangenen Jahren sind von Nürnberg mehr Industriebetriebe abgewandert als zugezogen, obwohl in der Stadt beachtliche Gewebeflächen bebaut worden sind. Das ist nicht zuletzt eine Folge des akuten Mangels an Gewerbeflächen,die eine rentable Produktion noch erlauben. (In den Jahren zwischen 1955 und 1965 hat Nürnberg nur zwei von 774 neuen Betrieben in Bayern gewinnen können. 94 v. H. der Unternehmen wurden auf dem flachen Land erbaut, nur 6 v. H. In den Großstädten; München konnte mit 34 von 48 solchen Industriebetrieben den Löwenanteil an sich ziehen.

6. Die staatliche Raumordnungs- und Strukturpolitik ist geeignete Industriestättenunternehmen oder Betriebsstätten aus dem Nürnberger Raum abzuziehen. (Wirtschaftsreferent Prof. Dr. Geer berief sich vor dem Beirat zwar auf die Geheimhaltungsvorschriften des Statistischen Bundesgesetzes, weil er die Zahl der abwandernden Betriebe nicht nennen wollte, aber er teilt mit, daß der Stadt durch verlagerte Betriebsstätten schon im Jahr 1065 ein Gewerbesteuerausfall von 7,1 Millionen DM entstanden ist.)

7. Die Wirtschaftsstruktur muß noch sinnvoll durch Wachstumsindustrien (beispielsweise chemische Werke oder Unternehmen für Elektronik) ergänzt werden, die bisher nur unzureichend vertreten sind.

„Mit dieser Denkschrift wollen wir zum ersten Mal aufzeigen, welche Grenzen der staatlichen Wirtschaftspolitik einerseits und der kommunalen Wirtschaftsförderung andererseits gesteckt sind“, erklärte Wirtschaftsreferent Prof. Dr. Johann Sebastian Geer vor der Vollversammlung im Hotel „Deutscher Hof“. Während der Staat ein weites Gebiet vor sich finde, das erst von der Außenhandelspolitik eingeengt werde, habe die Stadt nur wenig Möglichkeiten, der Wirtschaft zu dienen, beispielsweise mit der Erschließung geeigneter Grundstücke durch Versorgungsleitungen und Verkehrsbänder. Nur selten – so meinte Geer– könne eine Gemeinde in die Ansiedlung von Unternehmen eingreifen.

Daher wendet sich die Denkschrift vor allem an das Land Bayern und auch an den Bund, wenn sie Gedanken über die zukünftige Entwicklung äußert. „Die Stadt muß wie bisher unbeirrt ihre Bemühungen fortsetzen, die Vollendung des Europa-Kanals Rhein-Main-Donau zu erreichen, den Bau der Schnellstraße, der U-Bahn zu betreiben“, heiße es da beispielsweise, aber schon im nächsten Satz: „Die Erfüllung einer solchen Forderung hängt neben der städtischen vielleicht noch viel stärker von der Finanzpolitik des Bundes und des Landes ab.

Die Autobahnstrecke nach Regensburg und Amberg, die bis zum Anfang der 70er Jahre fertig sein soll, möchte die Stadt bis an die tschechoslowakische Grenze verlängert sehen, weil sie auf den Handelsverkehr mit dem Osten einige Hoffnungen setzt. Als weitere Schnellverbindung schwebt ihr die Autobahnlinie nach Heilbronn vor, die der Wirtschaft den nötigen Anschluß an den badenwürttembergischen Raum, darüber hinaus auch bis an das Saarland, aus Elsaß und an die Schweiz bringen soll. Auf diese Strecke wird besonders gedrängt, weil die Schienenstränge in dieser Richtung seit Jahrzehnten schon den Anforderungen nicht genügen.

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