8. Januar 1967: Souvenirjäger von Reue und Kopfweh geschüttelt

8.1.2017, 07:00 Uhr
8. Januar 1967: Souvenirjäger von Reue und Kopfweh geschüttelt

© Gertrud Gerardi

Von Bierkrügen über Bestecke, Menagen, Wandteller, alte Stiche, Aschenbecher, Speisekarten und Kleiderbügel bis hin zu Butzenscheiben und Blumentöpfen reicht die Skala der Jagdstrecke, die etwas außerhalb der Legalität erbeutet wird. Was die Polizei meist schlankweg Diebstahl nennt, sehen zahlreiche Gastronomen nur als Kavaliersdelikte an, die aber mitunter gewaltig zu Buche schlagen. Trotzdem lassen sie die kleinen Sünder laufen. Die Hoffnung, daß sie am nächsten Morgen von der Reue gepackt werden, ist oft trügerisch. Die Fische tauchen einfach nicht mehr auf…

Das gilt auch für den fast 200 Jahre alten Stammtisch-Schild, der noch bis vor ein paar Tagen das vertraute Zeichen einer ebenso vertrauten Runde im Bratwursthäusle war. An dem handgeschmiedeten Symbol beschwingter Fröhlichkeit, das Ausschnitte des Gitters vom Schönen Brunnen mit dem Ring zeigt, hängt auch der Nürnberger Trichter. Beziehungsreich lesen sich auf ihm die Worte: „Selbst die dümmsten Gesichter macht weise...“

8. Januar 1967: Souvenirjäger von Reue und Kopfweh geschüttelt

© Gertrud Gerardi

Seit das ein Kilogramm schwere und etwa 300 Mark teure Stück spurlos verschwunden ist, macht Bratwursthäusle-Wirt Werner Behringer ein betrübtes Gesicht. Den Schild, der schon einmal kurz den Besitzer gewechselt hatte und dann anonym wieder zurückgeschickt worden ist, hat er nach dem Kriege von einer alteingesessenen Nürnberger Bürgerfamilie erworben. Wenn er erneut den Weg an seinen angestammten Platz finden sollte, wird der jetzt noch unbekannte Täter obendrein belohnt: hundert Original-“Däumlinge“ sind die Prämie für seine „Ehrlichkeit“.

„Bei mir verschwindet alles, was nicht niet- und nagelfest ist“, stöhnt Werner Behringer. Aschenbecher und Biergläser müssen ebenso dran glauben wie die beliebten Zinnteller in Herzform, auf denen die knusprigen Leckereien serviert werden. Manche Langfinger können es mit dem verbotenen Griff gar nicht abwarten und stecken die kleinen Schälchen gleich mit dem Meerrettich in die Tasche. Seit die wertvollen Wandteller und Krüge auf einem langen Regal unter der Decke stehen, sind keine Lücken mehr in ihren Bestand geschlagen worden.

8. Januar 1967: Souvenirjäger von Reue und Kopfweh geschüttelt

© Gertrud Gerardi

Keineswegs sicher sind auch Blumenkästen auf der Veranda und elektrische Weihnachtskerzen, von denen beim vorletzten Fest 28 Stück verschwunden waren. Ausländer haben es in erster Linie auf Weinkaraffen abgesehen. Einmal war sogar der Verlust eines Fensterflügels mit Butzenscheiben zu beklagen. Hoch im Kurs stehen auch die an der Außenfassade angebrachten kupfernen Buchstaben, die von den echt Nürnberger Spezialitäten künden. Dabei kommt es manchmal zu Wortspielereien, über die man durchaus schmunzeln kann: „Bratwursthäule“ oder „Beatwurst“.

Denken, vielleicht auch blitzschnell schalten, tun auch galante Spezies, die beim Verlassen des Lokals frische Blumen entdecken. Sofort brechen sie eine Knospe ab und verehren sie ihrer Begleiterin. Man denkt eben an alles – vor allem aber an die privaten Sammlungen zu Hause, die beim Besuch von Hotels und Gaststätten in vorgerückter Stunde sinnvoll und obendrein noch kostenlos ergänzt werden. Branchenkenner sprechen bereits von ausgesprochenen Andenkenjägern, die mit Erzeugnissen aus aller Welt protzen wollen. Werden sie einmal auf ihren ausgetretenen Pirschgängen ertappt, macht sich bei ihnen meist Verlegenheit breit. Dann verfallen sie in die Rolle des Spaßmachers. Nur ein kleiner Scherz, es war nicht so gemeint…

8. Januar 1967: Souvenirjäger von Reue und Kopfweh geschüttelt

© Gertrud Gerardi

„Die Leute langen nicht in böswilliger Absicht zu, sondern weil es ihnen besonders gut im Lokal oder in der Stadt gefallen hat“, findet „Patrizier“-Inhaber Carl Hann. Er kennt oft die Übeltäter, traut sich aber nichts zu sagen, „weil eine muntere Stimmung vorausgegangen ist“. Hat sich am nächsten Tag die Alkohollaune gelegt, kommt das große Erwachen. Aber dann fehlt es meist an der Courage, seinen Fehltritt vom letzten Abend wieder auszubügeln. Es kann durchaus passieren, daß sich die Scham hinter einem falschen Absender verbirgt und die heimlich, still und leise kassierten Souvenirs per Post zurückgeschickt werden – wie die Bierbecher aus einem Spezial-Service, die während der Spielwarenmesse „flöten“ gingen und die später der Paketbote wieder an die richtige Adresse brachte.

Gäste haben das gleiche Hobby

Die Not hat Carl Hann erfinderisch gemacht. Der leidenschaftliche Bierkrug-Sammler besitzt seltene Exemplare aus der Renaissancezeit, mit Elfenbein und Silber reichlich verziert, Regiments- und Reservistenkrüge sowie Maßen aus der Biedermeierzeit und „Töpfe“ mit Bildern von Königen. Da auch Gäste offensichtlich dem gleichen Hobby nachgehen, verschwanden regelmäßig solche Ausstellungsstücke. Heute kann man sie auch noch bewundern, aber nicht mehr unauffällig mitnehmen: sie sind allesamt angekettet. Eine sichere und obendrein originelle Lösung.

8. Januar 1967: Souvenirjäger von Reue und Kopfweh geschüttelt

© Gertrud Gerardi

Die Andenkenliebe zahlreicher Lucullus-Freunde hat „Baumwolle“-Wirt Charly Sachers veranlaßt, Salatschüsseln nicht mehr auf Untertellern zu servieren. „Die sind alle mitgenommen worden“, gibt er offen zu. Vor einem Monat kaufte er 24 neue Römer-Schnaps-Gläser, heute stehen nur noch sechs hinter der Theke. Ein „Schwund“ von 75 Prozent. Wie warme Semmeln gehen auch Salz- und Pfefferstreuer, Senftöpfchen und Milchkännchen weg, „weil sie so handlich sind und unbemerkt mitgenommen werden können“. Eine Spezialität des Hauses und spezieller Kunden sind Zinnlöffel, mit denen man analog der Medizin einen „Klaren“ hinunter spült. Solchermaßen die Stimmung angeheizt, ist die Versuchung doppelt groß, so eine „Schaufel“ in einem günstigen Augenblick verschwinden zu lassen. Ersatz gibt es nur in einer alten Gießerei in Norddeutschland, handgefertigt und 15 Mark pro Stück.

Manche Finger zucken auch, wenn der Blick auf seltene Stiche aus Alt-Nürnberg, Regensburg und aus französischen Städten fällt. Der Wirt wirft ein waches Auge auf sie, damit nicht plötzlich ein heller Fleck an der Wand sichtbar wird. Zur Vorsicht hat er die wertvollsten Stiche um das Büffet gruppiert, „weil sie dadurch ständig im Blickfeld sind“. Die billigeren Drucke hängen weit hinten. Da ist es nicht so schlimm, wenn einmal einer fehlt.

Keine Blumenstöcke stellt mehr Hans Süß in sein „Humbser-Bräustübl“ am Plärrer auf den Tisch. In zwei Wochen waren 14 Stück auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Seitdem hält er es lieber mit frischen Schnittblumen, an die sich keiner heranwagt. Gabeln und Messer, die in Hosentaschen das Lokal verlassen, zählt der Gastronom schon gar nicht mehr. „Mit solchem Verlust muß man in unserer Branche rechnen“, bekennt Hans Süß. Ein kupfergetriebener Stammtisch-Schild ging den gleichen Weg. Er ersetzte ihn durch eine einfachere Ausgabe, die allen Verlockungen widerstanden hat.

Obwohl die Andenkensammler beträchtliche Beute machen, ist ihre Zahl vergleichsweise sehr gering. Manche Gastronomen können sogar stolz melden, völlig „ungerupft“ davonzukommen. „Bei mir fragen ständig Gäste, ob sie Silberbesteck kaufen können“, weiß der Pächter des Flughafen-Restaurants, Andreas Gsänger, zu berichten. Und „Herrnhütte“-Besitzer Christian Erkel ist überzeugt: Bei mir fehlt nichts“.

Man sieht: es geht auch anders. Muß Gelegenheit immer Diebe machen?

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