8. März 1969: Kragen begehrter als goldener Boden

8.3.2019, 07:00 Uhr
8. März 1969: Kragen begehrter als goldener Boden

© Ulrich

Sehnsüchtig erinnert er sich an die Zeiten, als er noch seinen Stift zum Brotzeitholen schicken konnte. Doch diese Zeiten sind schon lange vorbei. Die Wohlstandsgesellschaft hat sich des Handwerks angenommen – ohne es zu wollen, gab sie schon fast totgeweihten Berufszweigen neue Impulse.

Rentable Umstellung

Doch die gleiche Gesellschaft ist auch schuld an den Nachwuchssorgen zahlreicher Nürnberger Innungen. Obwohl sie dringend der Lehrlinge bedürfen und die Handwerksbetriebe auch eine goldene Zukunft verheißen, schrecken die „Stifte“ vor einigen Berufen zurück – sie fürchten das mangelnde Sozialprestige. Trotz unterschiedlicher Ursache haben die hier angesprochenen Berufssparten eines gemeinsam: Nachwuchsmangel.

8. März 1969: Kragen begehrter als goldener Boden

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Schon frühzeitig hatte das Handwerk erkannt, daß mit der Industrialisierung einigen Erwerbszweigen der sprichwörtliche goldene Boden entzogen wird. Die Umstrukturierung war das Gebot der Stunde – und es blieb nicht nur bei diesem Schlagwort. Die Handwerker stellten sich um, soweit ihnen ihr erlernter Beruf dazu die Möglichkeit gab.

Der Schmied spezialisierte sich auf Landmaschinen, der Wagner sattelte um auf den Karosseriebau, der Flaschner mauserte sich zum Installateur, der Stellmacher zum Schreiner, der Dentist zum Zahntechniker, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Mit der Umstellung verlor das Handwerk viel von seiner früheren romantischen Beschaulichkeit. In die pittoresken Werkstätten zogen Technik und Automation ein. Doch für den traditionsbewußten Handwerker machte sich der Aufwand bezahlt; größere Umsätze waren der Lohn für die Anpassung.

Gefragte Handarbeit

Aber nicht alle Meister der Manufaktur konnten diesem Trend folgen. Zahlreiche Gewerbe schienen zum Aussterben verurteilt. Man war weitsichtig genug, sie nicht künstlich am Leben zu erhalten. Die Zahl anderer Fachbetriebe reduzierte sich gemäß der Nachfrage auf ein Minimum. So sind heute die Nürnberger Korbmacher, die Messerschmiede, Wäsche- und Miederschneider, die Fahrrad- und Nähmaschinenbauer, die Holzdrechsler, Gold- und Silberschmiede, die Töpfer und Steinmetze, die Kürschner und Feintäschner an einer Hand abzuzählen.

8. März 1969: Kragen begehrter als goldener Boden

© Ulrich

Doch die Welle des Wohlstandes traf das Handwerk unvorbereitet. Hatten die Kunden zuvor die preisgünstigen Fabrikwaren seinen Produkten vorgezogen, so war und ist jetzt wieder die Handarbeit gefragt. Der Vermassung folgte die Individualisierung. Wer konnte schon damit rechnen? Mit „schöner wohnen und bauen“ erlebte die handwerkliche Kunst eine Neuauflage. Das Wertbeständige und Unzweckmäßige, das Extravagante und das Einmalige konnte jedoch nur die Werkstatt bieten. Holzdrechsler und Kunstschmied, Keramiker und Steinmetz sollten die vielfältigen Wünsche erfüllen.

Doch es gibt nur noch sehr wenige Betriebe dieser Sparte. Vor mehr als zehn Jahren hatten sich viele Meister umgestellt, Gesellen und Lehrlinge waren abgewandert. Nun werden sie mehr denn je gebraucht. Die restlichen Kunsthandwerker können der großen Nachfrage fast nicht mehr gerecht werden. Drechslermeister Leonhard Wild, Obermeister seiner Innung, steht fast ununterbrochen an der Drehbank. Er hat sich in den letzten Jahren ganz auf das Kunstgewerbe für den „gedeckten Tisch“ umgestellt. Privatkunden kann er fast nicht mehr beliefern – die Industrie deckt ihn mit Aufträgen völlig ein; sie hat rechtzeitig erkannt, daß deutsche Hand- und Wertarbeit wieder up to date ist. So beugt sich Leonhard Wild, der seit vielen Jahren keinen Lehrling mehr bekommen hat, willig dem Gebot der Zeit „aus neu mach‘ alt“ und beizt das helle Eichenholz dunkel.

Dem gleichen Trend folgte Obermeister Friedrich Stübinger von der Bildhauer- und Steinmetz-Innung. In seiner Werkstätte beschäftigt man sich schon seit langem nicht mehr ausschließlich mit Grabsteinen. Geduldig nehmen seine Kunden in Kauf, daß sie oft jahrelang auf ihr in Stein gehauenes Wappen warten müssen. Sehr gefragt sind bei ihm auch kleine Steintischchen, die reichverschnörkelt das Wohnzimmer oder den Garten zieren sollen. Ebenfalls begehrt sind Steinplastiken.

Auch Spitzenlöhne reizen „Stifte“ nicht mehr

Den gleichen Auftrieb erlebten die Töpfer- und Keramikerwerkstätten, in denen Vasen, Krüge und Schalen, Leuchter und Kleinplastiken entstehen – künstlerisch wertvoll. Nicht ganz so groß ist die Nachfrage bei den Kunstschmieden und Korbmachern. Doch auch ihnen erteilte der Wohlstand neue Aufträge: individuell gearbeitete Türen und Tore aus Eisen sowie handgearbeitete Stühle und Gartenmöbel.

Kreishandwerksmeister Hans Bauerreiß will jedoch mit Vorbehalt den schulentlassenen Jungen und Mädchen zu diesen Berufen raten. Denn neben großem handwerklichem Können erfordern sie eine gute Portion künstlerischer Begabung. Nur wer schon von Haus aus Talent und Geschicklichkeit mitbringt, kann in diesen Handwerkszweigen goldene Lorbeeren erringen.

Ganz anders sieht es dagegen in all jenen Berufssparten aus, denen die öffentliche Meinung die Nachwuchskräfte entzieht. Wie Diplomkaufmann Wilhelm Rascher, Referent für Berufsausbildung bei der Handwerkskammer für Mittelfranken, versicherte, bieten all diese ersatzgeschwächten Tätigkeitsbereiche eine gesicherte Zukunft; in einigen Berufen ließen sich sogar Spitzenlöhne verdienen. Doch scheint dieses Einkommen die jungen Stifte nicht zu reizen.

Färber ohne Nachwuchs

So gibt es trotz der steigenden Nachfrage in ganz Mittelfranken nur zwei angehende Färber und Chemisch-Reiniger sowie zwei Estrichleger und zwölf Isolierer, lediglich 23 Dachdecker- und Uhrmacherlehrlinge, 19 Graveure, acht Galvaniseure, vier Vulkaniseure und neun Modellbauer, um ein paar nachwuchsleidende Berufe herauszugreifen. Dagegen wollen 2385 Lehrlinge Kraftfahrzeugmechaniker werden, 2214 Mädchen zieht es in die Friseursalons.

Die betroffenen Handwerksmeister stehen vor einem Rätsel. Karl Braun, Betriebsberater bei der Handwerkskammer für Mittelfranken, kann dieses Phänomen mit einem knappen Satz erklären: Es sind eben keine „White-Collar-Berufe“. Seit rund zehn Jahren verfolgte man in der Volkswirtschaft den Trend zu den Jobs, die man im Anzug und „weißen Kragen“ ausübt.

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